Sybille Kroos, 2005
geboren 1965 in Bottrop; gestorben 2023
Galerie Peter Tedden, Düsseldorf
Die Welt ist Farbe
Regina Michel
„Farbe ist Leben, denn eine Welt
ohne Farben erscheint uns wie tot.“
(Johannes Itten)1
Farben transportieren seit Beginn der Menschheit wichtige – manchmal überlebenswichtige – Botschaften. Das Rot von Kirschen, das Gelb von Zitronen, das Grün von Äpfeln heischen nach Aufmerksamkeit. Bunte Blütenkelche locken Insekten, weisen den Weg zum Blütennektar. Rote Lippen signalisieren Gesundheit und sind zum Inbegriff von Liebe und Erotik geworden. Auffällige Farben können aber auch eine Warnung sein: Feuerrot oder Giftgrün signalisieren Gefahr. Die kunterbunte Haut von Meeresschnecken oder die giftgrüne Färbung mancher Frösche schreit gerade zu: „Vorsicht giftig!“ Der Signalcharakter einer Farbe ist nicht eindeutig festgelegt. Ob eine Farbe Lock- oder Warnfarbe ist, wird erst im Kontext ersichtlich. Immer jedoch ziehen Signalfarben die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Objekte. Und: Es ist die Farbe, die von der Fülle des Lebens, von der Schönheit der Welt erzählt.
Gelb, Türkis, Violett. Intensiv strahlen die Farben in der Arbeit ,Sean-Amsterdam‘ von Sybille Kroos vor einem hellen, graugrünen Hintergrund. Pink, Orange, Hellgrün. Ein dunkler, rotbrauner Hintergrund bringt die Farben in ,Nele-Hamburg‘ zum Leuchten. Keine Frage: Farbe spielt auch im Werk von Sybille Kroos die zentrale Rolle. Dabei ist die Farbgebung in ihrem Werk ungewöhnlich. Trotz der intensiven Farbigkeit finden sich selten Grundfarben, gebrochene Töne dominieren. Dennoch erzielt die Künstlerin in ihren Arbeiten höchste Leuchtkraft. Sybille Kroos ist eine Meisterin im Umgang mit der Farbe. Gekonnt gesetzte Quantitätskontraste verstärken die Farbgebung hin zu einer expressiven Wirkung. Ungewohnte komplementäre Kontraste werden durch relativ große neutrale Farbflächen im Hintergrund noch gesteigert. Immer jedoch verbinden sich die übersteigerte Farbigkeit und die leicht dissonante Farbakkordik zu einer harmonischen Gesamtkomposition. Diese außergewöhnliche, erschütternde Farbgebung zieht den Betrachter in ihren Bann. Die Farbe in den Arbeiten von Sybille Kroos ist Verführung, eine Verführung, wie sie bereits Nicolas Poussin beschrieben hat: „Die Farben in der Malerei sind sozusagen Schmeicheleien, mit denen die Augen verführt werden sollen, so wie in der Dichtkunst die Schönheit der Verse eine Verführung für die Ohren ist.“
Gesehen – erlebt – gemalt
„Wer ein Meister der Farbe werden will,
muss jede einzelne Farbe und ihre unendlich
vielen Kombinationen mit allen anderen Farben
sehen, fühlen und erleben.“
(Johannes Itten)1
Sybille Kroos malt, was sie sieht. Sie bannt Dinge und Situationen, die ihr Freude bereiten oder die sie bewegen, auf die Leinwand. Ihre Motive findet sie in ihrer direkten Umgebung. Es sind die kleinen, die ganz banalen, alltäglichen Dinge, die die Künstlerin interessieren. Oder wie es Helga Meister formuliert: „Sybille Kroos ergötzt sich an den simplen Dingen des Lebens und verwandelt sie in pure Farbe.“2 Im Fenster einer Konditorei, im Museum, auf der Fahrt nach Italien entdeckt Sybille Kroos ihre Bildmotive. Aber auch die eigene, neue Lebenssituation,
die eigenen Sehnsüchte und Träume können zum Auslöser einer Bildserie werden. So erinnern die ,Telefonbilder‘ an die erste Zeit im ZF-Turmatelier in Friedrichshafen, an den täglichen Griff zum Telefon. In dieser Serie hat die Künstlerin ihre Sehnsucht nach dem täglichen Austausch mit den vertrauten, geliebten Menschen verarbeitet. Entstanden sind Bilder, die ein Grundgefühl vermitteln, das über das eigene Erleben weit hinausgeht. Titel wie ,Hans-Berlin‘, ,Giovanni-New York‘ oder ,Greta-Rom‘ verweisen auf die Sehnsucht liebender Menschen, die Kontinente überschreitet, keine Grenzen kennt.
Die Arbeiten von Sybille Kroos sind keineswegs realistisch, ein sklavisches Kleben am Vorbild Realität ist ihr fremd, jegliche narrative Komponente fehlt. Sybille Kroos erschafft eine neue, eine eigene Welt. Der zum Teil skurrile Humor, mit dem sie sich die Welt aneignet, wird besonders augenfällig im ,Lüsterweib‘ und der Serie ,Versuchung aus dem Kochtopf‘. Die Inspirationen für diese Gemälde hat die Künstlerin beim Erkunden des neuen Lebensraumes gefunden. Kuriositäten haben es der Malerin schon immer angetan. Eine Lüsterfigur, bei einem Ausflug entdeckt, aber auch die mittelalterliche Skulptur eines ,Vitus im Kessel‘ spornen ihre Fantasie an und erfahren in ihren Arbeiten eine überraschende Metamorphose. Die Lüsterfigur verschmilzt im ,Lüsterweib‘ mit der Darstellung einer Meerjungfrau. Mit der Krone und dem wallenden blonden Haar verleiht Sybille Kroos, die im Rheingau aufgewachsen ist, dem Zwitterwesen aus Lüster- und Galionsfigur aber auch Attribute, die an rheinische Weinköniginnen denken lassen. Noch drastischer ist die Verwandlung des ,Heiligen Vitus im Kessel‘. Die androgyne Märtyrergestalt, die sie im Zeppelin Museum sieht, wird zum Vorbild für eine Serie lebensbejahender, sinnlicher Darstellungen barbusiger Frauen im Kochtopf. Der Titel der Serie, zu der auch ein nackter Bacchus auf einem Weinfass gehört, lautet ,Verführung aus dem Kochtopf‘. Und: Geht Liebe nicht durch den Magen?
Sybille Kroos spielt augenzwinkernd mit Klischees, aber auch mit kunsthistorischen Zitaten. Die Frauenfigur, die in ,Verführung aus dem Kochtopf I‘ eine überdimensionierte Möhre wie einen Kochlöffel schwingt, wird von Kirschen begleitet, die an die Attribute in Heiligendarstellungen erinnern, gleichzeitig aber auch – unterstützt von der Farbgebung – Assoziationen an Tapetenmuster der 70-er Jahre wecken. Das Zufällige, Emotionale, Skurrile ist wohl überlegt. Es ist eine, wie Adolf H. Kerkhoff es ausgedrückt hat: „scheinbar spontane, in Wirklichkeit aber klug kalkulierte Naivität. Die Übertreibung, mit der die Malerin spielt, erstickt aber nicht am oder im Kitsch … nein, die Übertreibung mündet vielmehr in etwas ungleich Schwierigeres, weil scheinbar paradoxes: nämlich ironische Naivität. Entscheidend ist, dass es einen Punkt zwischen Naivität und Ironie gibt, an dem sich diese Bilder verankern lassen.”3
Das Streben nach Harmonie
„So wie ein Wort erst im Zusammenhang mit
anderen Worten seine eindeutige Bedeutung erhält, genauso erhalten die einzelnen Farben erst
im Zusammenhang mit anderen Farben
ihren eindeutigen Ausdruck und genauen Sinn.“
(Johannes Itten)1
Sybille Kroos verändert die Wirklichkeit ganz im Sinne der ungewöhnlichen, expressiven und dennoch harmonischen Farbkomposition. Ihre Arbeiten entstehen in einem oft langwierigen Bildfindungsprozess. Der spontane erste Eindruck täuscht. Zunächst nähert sich die Künstlerin einer neuen Bildidee über detaillierte Buntstiftzeichnungen. In den Zeichnungen ,Vita I–IV‘ und ,Pinot Noir‘, Studien zur Serie ,Verführung aus dem Kochtopf‘, arbeitet sie die Körperlichkeit der Figuren zunächst durch Lichter und Schatten deutlich heraus. Wenn sie das Motiv „im Griff hat“, beginnt ein Prozess der Abstraktion. Sie merzt alles Überflüssige und Störende aus. Realistische Perspektive, Farbgebung oder Größenverhältnisse gibt die Künstlerin dabei auf. Sie verändert die Proportionen, wechselt die Perspektive innerhalb ihrer Arbeiten ganz nach Gusto. Die Zeichnungen sind auf wenige, flächenbegrenzende Linien reduziert.
Farbe und Raum
„Streng genommen sind es Helligkeit und Farbe,
denen alle sichtbaren Erscheinungen ihre Existenz
verdanken. Die Grenzlinien, die die Form von Objekten festlegen, leiten sich von der Fähigkeit des Auges her,
zwischen Bereichen unterschiedlicher Helligkeit
und Farbe zu unterscheiden.“
(Rudolf Arnheim)4
Auch die ausdrucksstarke, ungewöhnliche und dennoch harmonische Farbgebung ist bereits vor Beginn des eigentlichen Malprozesses skizziert. Bevor Sybille Kroos die vereinfachten zweidimensionalen Linienzeichnungen – die die Gegenstände in abstrakte Flächen zerlegen – in ihrer Malerei zu expressiven Farbflächen organisiert, kalkuliert sie mit Hilfe von Farbkarten die richtigen Farbquantitäten. Sie prüft die Wirkung jeder einzelnen Farbe im Zusammenspiel mit allen anderen, ganz wie es Johannes Itten in seiner Farblehre fordert. Erst, wenn auch die Farbidee formuliert ist, beginnt der eigentliche Malprozess. Dabei setzt Sybille Kroos nicht einfach Farbe gegen Farbe. Die großformatigen Arbeiten sind nicht etwa prima gemalt. Die Bildarchitektur ist aus bis zu sieben übereinander liegenden Schichten von hinten nach vorne aufgebaut. Auf den vollflächig aufgetragenen, aus mehreren Farbschichten aufgebauten Hintergrund malt sie die komplette Telefonzelle, auch wenn diese später hinter dem Kopf der Telefonierenden verschwinden wird. Immer wieder bleiben Spuren tieferer Farbschichten sichtbar. Sie sind nicht nur Beweisführung des langwierigen Malprozesses, die Farbspuren grenzen vor allem Farbflächen mit ähnlichen Helligkeitswerten gegeneinander ab und weisen ihnen so ihre Position im Bildraum zu. Erst durch diese Verortung der zunächst abstrakten Farbflächen setzen sich diese wieder zum Gegenstand zusammen. Lediglich Helligkeit und Farbe erzielen illusionistische Raumtiefen.
Die tieferen Farbschichten sind es aber auch, die den Farben ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Farbklang verleihen. Sybille Kroos folgt auch der Farblehre von Itten nicht sklavisch. Ihre Farbakkordik ist leicht dissonant. Das Verhältnis von intensiven Farben und den „Nichtfarben“ im Hintergrund – wie Sybille Kroos die Grau- und Brauntöne gerne nennt – ist zugunsten einer expressiven Wirkung verändert. Doch die einzigartige, oft erschütternde Farbgebung ist immer harmonisch und entspricht den psychisch-expressiven Erfordernissen der Bildthemen. „Sybille Kroos malt figurative Haltungen, die zugleich ihre Haltung zur Malerei transportieren“4, beschreibt Adolf H. Kerkhoff die Arbeit von Sybille Kroos.
Ikonen der Lebenslust und Sinnlichkeit
„In den starken Stunden lösen sich die Probleme
aus der Intuition, wie aus sich selbst.“
(Johannes Itten)1
Trotz aller Überlegungen, die in die Gemälde von Sybille Kroos einfließen, haben diese eine enorme sinnliche Präsenz, weshalb sie den Eindruck vermitteln, als seien sie schnell und spontan gemalt. Die einzigen Bilder, die Sybille Kroos jedoch wirklich prima gemalt hat, sind die kleinformatigen Arbeiten aus der Serie ,Erotika‘. Hier ist der Malduktus schnell und unmittelbar. ,La Perla‘ und ,Triumph‘ lassen an Momentaufnahmen, an Serien schneller Sportaufnahmen denken: Der Körper scheint mitten in der Bewegung eingefroren zu sein. Lichter und Schatten modellieren erotische Frauenkörper. Man kann die Lust, mit der die Künstlerin die Ölfarbe pastos auf die Leinwand streicht, förmlich sehen. Alle Arbeiten von Sybille Kroos verfügen – völlig unabhängig vom Sujet – über diese enorme sinnliche Präsenz. Die Künstlerin schwelgt in Farbe. Emotional, lustvoll bannt sie das pralle Leben auf die Leinwand. In allen ihren Arbeiten spielt Sybille Kroos mit Begehren und Verführung, oder wie Adolf H. Kerkhoff diese Qualität der Arbeit bereits 2002 bei der Eröffnung der Ausstellung ,kitchen‘ formulierte: „Das Erotische dieser Bilder liegt in ihrem Spaß am Spiel von Sehnsucht und Befriedigung. … so ist doch das ganze Bild ein Angebot an unsere Lust zu schauen, … an unsere Schaulust.“4
Sybille Kroos beherrscht die Farbgesetze. Sie spielt mit Freude und Lust auf der Klaviatur der Farbharmonien. Ihre Arbeiten sind Ikonen der Lebenslust und Sinnlichkeit. Sie erzählen von der Schönheit der Welt und vermitteln die tief empfundene Freude der Künstlerin über die Fülle des Lebens.
„Ihre Liebe und ihr Interesse galt, seit ich ihre Arbeiten kenne, einfachen Gegenständen und allgemeinen Ideen wie Schönheit, Heiligkeit, Begehrlichkeit. In ihren Bildern sind diese Gegenstände und Ideen in Malerei verwandelt. Diese Verwandlung ist ihr Spiel und der Betrachter sollte sich darauf konzentrieren“5, hat A. R. Penck die besondere Stärke der Arbeiten seiner Meisterschüler auf den Punkt gebracht.