Ingo Baumgarten, 2005

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geboren 1964 in Hannover; lebt und arbeitet in Seoul, Korea


Vita
Studium an Kunsthochschulen in Karlsruhe, Paris, Norwich und Tokio
seit 2008
Professur für Malerei an der Hongik University Seoul
Preise und Stipendien (Auswahl)
2005
Stipendium ZF Kunststiftung
1996 – 1999
Stipendium der Japanischen Regierung, Monbusho
1996
Stipendium Kunststiftung Baden-Württemberg
1993
Stipendium Institut des Hautes Études en Arts Plastiques, Paris
Einzelausstellungen (Auswahl)
2015
Point of View, Hanmi Gallery Seoul
2014
Universal Studios Seoul, Seoul Museum of Art (Gruppenausstellung)
2013
Jutaek-Korean Houses, Eugean Gallery, Seoul
2010
Painting, Ronam Gallery, Seoul
2008
Forms of City, Art gallery of Kunshan University, Tainan, Taiwan
2007
Heterogeeous Aestetics, Kaoyuan Art Center, Kaohsiung, Taiwan
2006
Stadt am See, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
Katalogtext

Die Poesie des Alltäglichen

Regine Michel

„… die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung
ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.“
(Siegfried Kracauer)1

Ingo Baumgarten setzt sich in seiner künstlerischen Arbeit mit seiner direkten Umwelt auseinander. Er findet seine Motive im urbanen Raum, in dem vom Menschen gestalteten Lebensraum. Er malt die Bezirkskasse im Rathaus in Berlin-Neukölln, die U-Bahnstation in Berlin-Steglitz, eine Snackbar in Akasaka in Tokio, eine Rolltreppe in Paris, einen Windfang in der Paulinenstraße in Friedrichshafen. Die Wahrzeichen einer Stadt sucht man auf seinen Gemälden vergebens. Sein Interesse gilt den unspektakulären, alltäglichen Strukturen, die das Leben des Menschen bestimmen. Ingo Baumgarten will das Typische eines Lebensraumes sichtbar machen, die gelebte urbane Realität – jenseits der Postkarten-Idylle: „Ich versuche in meinen Arbeiten Gesellschaft und Kultur zu erfassen, zu verstehen und zu reflektieren. Dabei beschäftige ich mich in erster Linie mit dem Naheliegenden, dem Offensichtlichen, dem unspektakulären Banalen. Ich konzentriere mich auf Elemente der allgegenwärtigen Alltagskultur in ihrer eigentümlichen Gestaltung, Kombination und Ästhetik,“ erläutert Baumgarten seine Intention.

Der in der Fremde geschärfte Blick

Wichtige Impulse waren und sind für den Künstler immer wieder Stipendien und Auslands­aufenthalte. Studienaufenthalte in Frankreich und England, Arbeitsaufenthalte in Paris und Tokio haben das Werk des Malers nachhaltig beeinflusst und geprägt. „Das Fremde hat sich als wirksamer Katalysator für die produktive Auseinandersetzung mit meiner unmittelbaren Umgebung erwiesen“, so Baumgarten. Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit ist sein ganz persönlicher Blick auf die vorgefundene Realität: „Wichtiger als ein theoretischer Diskurs ist mir die Authentizität, die der persönliche Bezug, das eigene Sehen und Erleben mit sich bringt,“ erklärt der Künstler. Er bezeichnet seine Form der Aneignung der neuen Umwelt gerne als teilnehmende Beobachtung. Der Begriff ist in der Anthropologie, der Lehre vom Menschen, angesiedelt. Und: Die Zielsetzung der Visuellen Anthropologie beschreibt auch den konzeptuellen Ansatz von Ingo Baumgarten bestens: Ziel ist die Erforschung von Alltag, Kultur und Gesellschaft mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und deren Umsetzung in Bilder und Artefakte, um im Geläufigen das Widersprüchliche – oder wie bei Ingo Baumgarten, das Typische – aufzudecken. Auch das Stipendium der ZF-Kulturstiftung in Friedrichshafen konfrontiert den Künstler, der seit 2000 in Berlin lebt, zunächst mit einer neuen, unbekannten Welt.

Ingo Baumgarten nimmt sich Zeit. Er erkundet den neuen Lebensraum, die Stadt am See, zu Fuß und mit dem Fahrrad. Er ist auf der Suche nach dem Typischen hinter der Hochglanz-Oberfläche, nach den ganz alltäglichen Orten und Dingen, in denen sich die Geschichte der Stadt und die Identität der Menschen, die in ihr leben, manifestieren. Er sucht die kleinen Symbole. Die Wahrzeichen und touristischen Anziehungspunkte interessieren ihn nicht. Welche Motive begegnen den Menschen auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit, zum Einkauf oder beim sonntäglichen Spaziergang an der Uferpromenade? Der Künstler geht die gleichen Wege. Er findet seine Motive in den Wohnsiedlungen am Stadtrand und in Parkhäusern, in der städtischen Bibliothek und in der Volkshochschule, im Gondelhafen und im Yachthafen. Er hält die Orte und Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in seinem Skizzenbuch oder mit dem Fotoapparat fest.

Der ungewöhnliche Betrachterstandpunkt

Im Skizzenbuch finden sich Architekturstudien, die durch ungewöhn­liche Ausschnitte oder Betrachterstandpunkte auffallen – und immer wieder Detailskizzen. Ingo Baumgarten verlässt den gewohnten Betrachterstandpunkt, sucht neue Blickwinkel. Er gibt die Distanz auf. Er sieht ganz genau hin, fokussiert seine Aufmerksamkeit auf die oft übersehenen Details, zoomt sie heran. Die Formschönheit einer schwarzen Maschine und einer achtlos über die Reling geworfenen orangefarbenen Abdeckplane locken das Auge des Künstlers. Ein Windfang erregt seine Aufmerksamkeit. Der Blick über den Gartenzaun in Vorgärten, Hofeinfahrten und Garagen fasziniert ihn. „Seit langem wähle ich Ausschnitte und Details meiner nächsten Umwelt als Motive für meine Bilder; Gegenstände, die mir als kennzeichnend und typisch für das entsprechende Umfeld erscheinen und maßgeblich deren Atmosphäre bestimmen“, bestätigt Ingo Baumgarten. Die skizzierten Details sind nicht etwa nur Studien, die später in eine größere Arbeit integriert werden sollen. Die Skizzen von Windfang und Türknauf, einer angeschnittenen Taurolle sind die Basis für autonome Kunstwerke, sie werden im Atelier zu eigenständigen Gemälden. Der Blick auf den Boden neben den Schließfächern in der Bibliothek ist für den Künstler genauso bildwürdig, wie die Aufbauten des Feuerwehrbootes oder der Notausgang im Parkhaus am See.

„Das Periphere rückt ins Zentrum,
die Nebenrolle wird zum Hauptdarsteller.“

(Susan R. Suleiman)2

Ingo Baumgarten erklärt den banalen Alltag zum bildwürdigen Motiv. Sein bevorzugtes Ausdrucksmedium ist die Malerei. Denn: „Malerei ist wie kein anderes Medium mit der klassischen Idee von Kunst verbunden. Ein gemaltes Bild hat automatisch die pathetische Aura des Kunstwerks.“ Das ist Ingo Baumgarten wichtig. Orte und Dinge, denen Passanten und Autofahrer tagtäglich begegnen, an denen sie jedoch achtlos vorbeigehen und vorbeifahren, ohne sie wirklich wahrzunehmen, setzt er in zum Teil großformatigen Ölgemälden liebevoll in Szene. Ingo Baumgarten hat Freude am Umgang mit Farben und ­Formen. Er arbeitet mit altmeisterlicher Präzision. Die Farbigkeit ist delikat, nuanciert durch vielfache Untermalungen. In unzähligen Grauabstuftungen und Schwarznuancen zeigt er dem Betrachter die Schönheit einer schwarzen Maschine. Akribisch genau gibt er die Spiegelungen im metallenen Türgriff der Volkshochschule wieder. Mit einer Sorgfalt, die an die der Alten Meister beim Ausarbeiten des Gewandes einer gotischen Madonna denken lässt, gibt er den Faltenwurf einer Persenning wieder. In unzähligen Farbschattierungen schimmern der Himmel, eine Hauswand und eine Baumgruppe durch das unscheinbare braune Glas des Windfangs und erwecken es zum Leben.

Inhalt und Form sind in der Arbeit von Ingo Baumgarten gleichberechtigt: „Die ästhetische Autonomie eines Kunstwerkes halte ich für genauso wichtig, wie die konzeptionellen Inhalte. Die physisch sinnliche Präsenz einer Arbeit kann das Interesse wecken, kann Gefühle auslösen und so auf die ideellen Ebenen führen. Eine gelungene künstlerische Arbeit sollte über sich selbst hinausweisen, gleichzeitig sollten sich die gedanklichen Inhalte und Konzepte aus der Arbeit selbst erschließen.“ Der scheinbare Widerspruch zwischen der sorgfältigen, altmeisterlichen Malweise und den banalen Motiven zieht den Betrachter in ihren Bann, schärft die Wahrnehmung für die subtile Poesie des Alltäglichen.

Vertraut und fremd zugleich

„Der Betrachter muss in seiner Imagination
das medial verkörperte Bild beleben,
als spräche es zu ihm.“
(Hans Belting)3

Ingo Baumgarten zeigt den Lebensraum fremd und vertraut zugleich. Es ist nicht nur die zuvor nicht wahrgenommene Schönheit des Alltäglichen, die den Betrachter befremdet. Viele Motive lassen sich erst auf den zweiten Blick im Stadtgefüge verorten. Besonders augenfällig wird die Verfremdung in den Stadtansichten. Ingo Baumgarten bildet die Wirklichkeit nicht einfach ab, er verfremdet und verdichtet sie. Er bereinigt Formen und Farben, eliminiert alle störende Details. Er verändert die Wirklichkeit im Sinne der Gesamtkomposition, der strengen Bildtektonik. Die Stadtansichten bestechen durch klare Formen, strenge Geometrie und Frontalperspektiven. Besonders augenfällig sind die außergewöhnlichen Bildausschnitte. Der scheinbar zufällige Ausschnitt ist wohl überlegt und komponiert. Der Künstler schneidet seine Bildmotive aus dem Stadtgefüge heraus, durchtrennt dabei ohne Skrupel Schriftzüge. Mit messerscharfem Blick legt er die verschiedenen Schichten der Stadtgeschichte frei: Er zeigt Häuser, die mit ihren vielfachen An- und Umbauten vom schnellen Wiederaufbau nach der Zerstörung, dem gestiegenen Lebensstandard und der Modernisierung in den frühen siebziger Jahren erzählen.

Die Ästhetik des Alltags

Mit untrüglichem Blick hat Ingo Baumgarten das Typische des neuen Lebensraums in seinen Bildern eingefangen. Er hat sich auf die Spuren der Menschen konzentriert. Auch wenn die Menschen auf seinen Gemälden nicht direkt in Erscheinung treten, so gilt ihnen doch das primäre Interesse des Künstlers. „Der Mensch steht im Mittelpunkt meiner Arbeiten, nicht dargestellt durch Figuren sondern vielmehr in Negativform, in der Wiedergabe seiner Spuren. Ich zeige den vom Menschen gestalteten Lebensraum, die sichtbaren Spuren historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen,“ erläutert Ingo Baumgarten seinen Ansatz. Zeppelin, Bodensee-Panorama oder Schlosskirche sucht man auf seinen Bildern vergebens. Ihn interessieren die Spuren der ganz normalen Menschen. Obwohl er die ganz alltäglichen Orte und Dinge zeigt, die auf den ersten Blick eigentlich austauschbar erscheinen, erkennt man sie wieder, die Stadt am See, mit all ihren Widersprüchen, die sich nicht zuletzt auch aus ihrer Zwitterrolle als Urlaubsort und Industriestandort ergeben. Es gelingt Ingo Baumgarten, die Spuren der Zeit, die die Bautätigkeit vergangener Jahrzehnte im Gesicht der Stadt hinterlassen haben, sichtbar zu machen.

Um das Typische aufzuspüren, ist Ingo Baumgarten zum teilnehmenden Beobachter geworden. Er gibt seine persönlichen Erfahrungen, den außergewöhnlich scharfen und dennoch liebevollen Blick auf den Lebensraum, in seinen Gemälden an den Betrachter weiter: „Über meine Wahrnehmung gefiltert, fließt die äußere Welt in meine Arbeiten ein, in denen sie – reflexiv gebrochen – wieder auf die Gesellschaft zurückwirken kann.“

Die Gemälde von Ingo Baumgarten sind mehr als eine reine Dokumentation des Typischen eines Lebensraums. Sie fordern den Betrachter zur Auseinandersetzung mit den eigenen Sehgewohnheiten auf. Frontal treten die Stadtansichten dem Betrachter entgegen, als Gegenüber. Sie sind menschenleer. Kein Mensch, keine Identifikationsfigur lenkt die Aufmerksamkeit auf sich. Der Betrachter kann die Vorstadt-Bühne betreten, kann in die Rolle des teilnehmenden Betrachters schlüpfen. Die Gemälde von Ingo Baumgarten schärfen so die Wahrnehmung. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die verborgene Schönheit der unspektakulär banalen, alltäglichen Dinge und Orte. Sie erzählen voller Poesie von der häufig übersehenen Ästhetik des Alltäglichen.

1 Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt am Main, 1964, S. 53
2 Susan R. Suleiman, Introduction. In: The Reader in the Text: Essays on Audience and Interpretation, Hg.: Susan R. Suleiman, Inge Crosman, Princeton, 1980, S. 3
3 Hans Belting, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München, 2001, S. 13
Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.