Irina Ruppert, 2006
geboren 1968 in Aktjubinsk, Kasachstan; lebt und arbeitet in Hamburg
Heimat – hier oder da?
Regina Michel
„Niemand darf seine Wurzeln vergessen.
Sie sind Ursprung unseres Lebens.“
(Federico Fellini)
Irene kann sich nicht entscheiden: Soll sie den Stoff mit den zartgelben Blüten auf rotem Hintergrund wählen oder doch lieber den, mit den gelben und rosa Rosen auf dem kräftig türkisblauem Grund? Ein Blumenmuster muss es sein. Das ist klar. Am liebsten Rosen. Solche Stoffe liebt ihre Mutter. Sie sind für sie ein Stück der alten Heimat. Und der Stoff soll ja das Heimatland ihrer Eltern, Kasachstan, – ihre Herkunft – symbolisieren.
„Ich habe Jugendliche, die ich in Schulen, in Jugendzentren oder auf der Straße kennen gelernt habe, zu einer Art Gegenüberstellung aufgefordert: Jedem der Jugendlichen habe ich zehn bis fünfzehn Stoffe zur Auswahl vorgelegt. Es waren traditionelle Stoffe, wie sie bei der Einrichtung der Wohnung verwendet werden: Stoffe für Tischdecken, Bettbezüge oder Vorhänge. Die Jugendlichen sollten den Stoff wählen, der ihr Herkunftsland symbolisiert – und vor dem sie dann fotografiert werden wollten. Dieser Hintergrund, die Stofflichkeit, steht für die erste Wurzel der Porträtierten. Die zweite Wurzel, die Lebenswirklichkeit hier und jetzt, wird in den Fotografien durch die Kleidung und Haltung der Jugendlichen repräsentiert“, beschreibt Irina Ruppert die Projektidee zu der Fotoserie ,Wurzeln 2‘.
In der autobiografisch motivierten Fotoserie, die während des Stipendiums der ZF-Kulturstiftung in Friedrichshafen entstanden ist, setzt sich die Hamburger Fotokünstlerin mit der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen auseinander, die in zwei Kulturkreisen aufwachsen. Ihre zentralen Fragestellungen lauten: „Wie gehen Heranwachsende mit ihrer Herkunft um, wenn die Traditionen des Elternhauses auf den hiesigen Lebensstil prallen? Wenn zuhause Werte vermittelt werden, die in der Schule und auf der Straße eine ganz andere Resonanz erfahren? Wie bewältigen sie es, sich selbst einer anderen Kultur öffnen zu müssen, gleichzeitig aber vielfach auf Desinteresse an der eigenen zu stoßen? Findet eher eine Reibung oder womöglich doch eine Vermischung der Kulturen statt?“
Die Pubertät ist eine ebenso spannende wie schwierige Zeit. Eine zentrale Rolle spielt die Frage nach der eigenen Identität: Wer bin ich? Wer will ich sein? Regeln und Normen, die in der Familie gelten, werden kritisch hinterfragt und mit den eigenen Erfahrungen, Sehnsüchten und Wünschen verglichen. Die Meinung der Freunde und der Clique wird oft wichtiger als die der Eltern und Lehrer. Statt der Familie wenden sich Pubertierende häufig anderen Autoritäten zu: Freunden, Stars, Politikern, Schauspielern oder anderen Helden der Jugend. Der Einfluss der neuen Idole spielt bei der Entwicklung moralischer Werte, aber auch bei der Ausbildung einer eigenen Meinung eine wichtige Rolle. Konflikte sind programmiert.
Zwischen zwei Kulturen
Besonders konfliktträchtig und schwierig ist die Suche nach der eigenen Identität für Jugendliche, die in zwei Kulturen aufwachsen. Tagtäglich bewegen sie sich zwischen zwei Welten, sind innerlich hin und her gerissen, verunsichert. Sie müssen sich mit den Normen, Werten und Lebensweisen zweier Kulturen auseinandersetzen, sind im Elternhaus und in ihrem sozialen Umfeld mit zwei Wertesystemen konfrontiert, die sich oft diametral gegenüberstehen. Die Frage nach der kulturellen Identität, nach der Herkunft spielt eine zentrale Rolle: Wo gehören sie hin? Wo liegt ihre Zukunft? In der Fotoserie ,Wurzeln 2‘ untersucht Irina Ruppert, die 1968 in Aktjubinsk in Kasachstan geboren wurde und seit 1976 in Hamburg lebt, inwieweit bei Pubertierenden – die ohnehin auf der Suche nach sich selbst und ihrem Weg im Leben sind – eine Auseinandersetzung mit ihrer zweigeteilten Identität stattfindet.
Sie sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie sprechen Deutsch, gehen in Deutschland zur Schule. Sie tragen Jeans und T-Shirts, hören die gleiche Musik wie ihre Klassenkameraden. Sie haben Freunde und Cliquen gefunden, Beziehungen aufgebaut, sind in Deutschland heimisch geworden. Aber ist Deutschland auch ihre -Heimat? Immer wieder werden sie aufgrund ihrer Herkunft mit Vorurteilen konfrontiert, aufgrund ihres religiösen und kulturellen Hintergrundes oder ihrer Hautfarbe ausgegrenzt. Immer wieder werden sie damit konfrontiert, dass sie anders sind. Um sich vor Ausgrenzung und Diskriminierung – vielleicht auch vor der eigenen Verunsicherung – zu schützen, verleugnen viele der Jugendlichen ihre Herkunft: „Meinen Namen habe ich ändern lassen, damit man nicht erkennt, dass ich aus Russland komme.“ Andere reagieren mit Abwehr auf die Ausgrenzung: „Mein Opa ist in Tunesien geboren, also bin ich Tunesier!“ Aber kann das überhaupt stimmen?
„Sich verwirrt zu fühlen,
ist der Anfang wahren Wissens.“
(Khalil Gibran)
Auch wenn im Elternhaus die Lebensweisen und Vorstellungen des Heimatlandes bewahrt und vermittelt werden – für viele jugendliche Einwanderer der zweiten Generation ist das Heimatland ihrer Eltern nur noch eine ,fremde Heimat‘. Italien, Kroatien, Russland, Tunesien oder die Türkei – die Länder, aus denen ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind, kennen viele der Jugendlichen nur noch von Urlaubsreisen. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass sie in der Heimat ihrer Eltern nicht mehr zuhause sind. Wo aber ist ihre Heimat? „Die Türkei ist meine Heimat und Deutschland mein Zuhause“, beschreibt ein junger Deutsch-Türke sein Lebensgefühl.
Wurzeln 2
Neunzig Jugendliche zwischen dreizehn und zwanzig Jahren hat Irina Ruppert für die Fotoserie ,Wurzeln 2‘ fotografiert. Der Stoff, der für ihre Herkunft steht, nimmt den gesamten Hintergrund ein. So entsteht ein geschlossener Bildraum, der die Umwelt ausschließt. Irina Ruppert löst die Porträtierten aus ihrer Umgebung heraus. Isoliert von der Clique werden sie ganz auf sich zurückgeworfen. Gleichzeitig bildet der Bildraum einen Schutzraum: Die zur Stofflichkeit verdichtete Herkunft stärkt den Jugendlichen den Rücken. Vor diesem Hintergrund sollen sie durch ihre Haltung ihrem aktuellen Lebensgefühl Ausdruck verleihen. Die Jugendlichen blicken direkt in die Kamera, treten dem Betrachter frontal entgegen. Sie zeigen sich so, wie sie gesehen werden möchten: ernst, stolz, unnahbar, selbstbewusst, in sich ruhend, trotzig. Die atmosphärisch dichten Fotoarbeiten lassen aber auch Sehnsüchte und Träume, Ängste und Zerrissenheit erahnen. Sie sprechen vom Stolz und der Würde, aber auch von der Verletzlichkeit der jungen Menschen. Irina Ruppert hat den richtigen Moment gesucht und gefunden. Den Moment, in dem auch Verborgenes sichtbar wird. Sie hat die Distanz aufgegeben. Sie hat mit den jungen Menschen gesprochen, über ihr Leben, ihre Probleme, ihre Wünsche, ihre Zukunftspläne. Sie hat ihnen zugehört, sie respektiert und ernst genommen. Sie hat ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt. Die Zuneigung und die Achtung, die die Künstlerin für die Jugendlichen empfindet, sprechen aus jedem Bild. Die Jugendlichen konnten Irina Ruppert vertrauen. So konnten sie sich vor der Kamera öffnen, etwas von ihrer Geschichte, ihren Wünschen und Hoffnungen preisgeben. Irina Ruppert ist es gelungen, die Persönlichkeit der Porträtierten zum Sprechen zu bringen.
Die Fotoarbeiten aus der Serie ,Wurzeln 2‘ verfügen über eine enorme Intensität. Es sind viele verschiedene Geschichten, die sich zu einer einzigen Geschichte verdichten. Subtil, einfühlsam erzählen sie von den Herausforderungen und Problemen, aber auch von dem Reichtum, den das Aufwachsen in zwei Kulturen bedeuten kann. Aus der Gegenüberstellung der beiden Wurzeln wird in den Fotoarbeiten ein Ganzes. So wie eine junge Deutsch-Inderin die schwierige Suche nach der eigenen Identität beschreibt: „Ich war hin- und hergerissen. Heute bin ich auf dem Weg, ein Ganzes zu werden. Ganzheit hat auch Bruchstellen. Aber ein Stück ohne Male und Brüche wird langweilig.“
Die Porträts der Serie ,Wurzeln 2‘ erzählen eine eindringliche Geschichte ohne Worte, die sich dem Gedächtnis des Betrachters einschreibt. Sie fordern auf, die bikulturellen Identität als Herausforderung, aber auch als Chance zu begreifen. Letztlich verweisen sie auf den potenziellen Reichtum einer Gesellschaft, die die Stärken verschiedener Kulturen nutzen kann. Denn, wie Ulrich von Alemann, Politikwissenschaftler an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, es formuliert: „Unsere Herkunft ist unterschiedlich – unsere Zukunft ist gemeinsam.“