Katharina Karrenberg, 2003
lebt und arbeitet in Berlin
R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA. DIVENFORUM
Regina Michel
Die versehrte Göttin
„Die Faszination der Diva wurde und wird hervorgerufen durch die Verschränkung und allmähliche Auflösung der Grenzen von öffentlichem Bild und privater Wirklichkeit. … Der Widerspruch zwischen medial produziertem Bild und Charisma ist nicht der Verlust des ‚Natürlichen‘, sondern eine Verdoppelung der Diva in eine historische und eine
mediatisierte Person.“
(Elisabeth Bronfen)1
Langsam tritt Katharina Karrenberg ins Scheinwerferlicht. Der weite, rote Tüllrock wippt bei jedem Schritt. Sie wirft den Kopf in den Nacken, breitet die Arme aus, überdehnt den Rücken ins Hohlkreuz. Den Blick zum Himmel gerichtet, erscheint sie unnahbar, eine Göttin, die sich ihren Bewunderern präsentiert. Auf den hochhackigen Schuhen wird das kurze Verharren in der Pose zum Balanceakt. Klick. Der Verschluß der Kamera erlöst die zierliche Künstlerin. Szenenwechsel: Eine dunkle Sonnenbrille verdeckt die Augen. Schützend schiebt sich die Hand vor das Gesicht, abwehrend streckt sich die Handfläche der distanzlosen Kamera entgegen. Zwei Posen der Diva, die jeder kennt. Zwei Posen, die sich zu widersprechen scheinen, und doch nur das ambivalente Changieren zwischen fiktiver und privater Person widerspiegeln.
Katharina Karrenberg setzt sich in der Performance in verschiedenen Posen der Diva in Szene, gleichzeitig fotografiert sie sich selbst. Sie dokumentiert die gesamte Performance in einer Serie von Mehrfachbelichtungen, hält jede Einzelpose mit Selbstauslöser im Foto fest. Katharina Karrenberg wechselt die Rollen, ist Subjekt und Objekt der Performance zugleich. Wie auf einer Bühne führt sie dem Betrachter die verschiedenen Facetten aus dem Zeichensystem ‚Diva‘ vor Augen. Im nächsten Moment wechselt sie hinter die Kamera, läßt den Betrachter einen Blick hinter die Kulissen werfen. Sie legt den Konstruktionsprozeß des Zeichensystems ‚Diva‘ offen und dekonstruiert so den Mythos ‚Diva‘.
Die Foto-Performance ist Auftakt der temporären Installation DIVENFORUM, die die Berliner Performance- und Vortragskünstlerin für Friedrichshafen entwickelt hat. Zu ihr gehören der rote Tüllrock, die hochhackigen Schuhe, die Mehrfachbelichtung der Performerin und ein Märchentext. Kernstück ist das DIVENFORUM, eine Serie von Handzeichnungen, die aus 220 Segmenten besteht, und Teil der Prozeßarbeit R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA ist. Die Vielschichtigkeit und Komplexität des DIVENFORUM erschließen sich im Kontext der Gesamtarbeit. „R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA ist ein künstlerisches Forschungsprojekt, das Areale des Übergangs, der Grenzüberschreitungen innerhalb des Vokabulars der Bildenden Kunst und zwischen verschiedenen Disziplinen untersucht. Es stellt prozessuale Räume mit unterschiedlichen Regeln, Realitäten und Zeiten her,“ erläutert Karrenberg das Projekt.
Das zentrale Motiv der Prozeßarbeit ist das der Grenzüberschreitung. Ein Paradebeispiel ist das DIVENFORUM: Die Diva ist eine Grenzgängerin. Sie bewegt sich gleichzeitig in zwei Systemen. Sie ist selbstinszenierter Mythos und verletzlicher Mensch. Sie ist fiktive und reale Person. „Im abendländischen Zeichensystem ist für solche uneindeutigen Subjekte auf der Grenze zwischen zwei Systemen kein Raum vorgesehen,“ erklärt Katharina Karrenberg. In R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA hingegen überschneiden sich künstlerische und außerkünstlerische Systeme. Statt scharf begrenzter Trennungslinien entstehen Grenzräume, in denen die gängigen Vorstellungen von Subjekt und Objekt, von Zeit und Raum außer Kraft gesetzt sind.
Lebensgroß, kopfüber mit ausgebreiteten Armen, schwebt die Diva dem Betrachter im DIVENFORUM entgegen. Zu ihr gesellen sich ein Hund mit abgezogenem Fell, ein verwundetes Alien und ein toter Fuchs. Aus roten Farbräumen tauchen einzelne Köpfe auf – unverkennbar der ‚Idiot‘ und die ‚Alte‘ von Goya. Im DIVENFORUM zitiert Katharina Karrenberg Werke der Kunstgeschichte, eigene Fotografien, aber auch Medienbilder wie die Abbildung eines Aliens aus einer Tageszeitung. Die Zitate sind ihrem Kontext entrissen, herausgelöst aus Zeit und Raum. Sie wirken vertraut und fremd zugleich. Der Topos, der das DIVENFORUM klammert – die Installation wie die Handzeichnungen – ist die Diva in all ihren Facetten. „Die Diva ist ein durchkonstruiertes Zeichensystem mit persönlicher Aura. Ihre charismatische Ausstrahlung beruht nicht so sehr auf ihrer Schönheit, als vielmehr auf ihrer Versehrtheit, “ erläutert Karrenberg: „Die Figuren im DIVENFORUM bilden keine Kausalketten, sie argumentieren nicht, sondern sind Zeichen, die aufgrund ähnlicher Strukturen Beziehungen miteinander eingehen: der reale Schuh ist ebenso geschunden wie das gezeichnete, verwundete Alien oder die durch den Mediatisierungsprozeß verwandelte ‚Alte‘ von Goya.“
Dekonstruktion des Subjekts
„Es war einmal eine Prinzessin. Sie war eine direkte Nachfahrin des Propheten Nietzsche. … Sie nannte sich ZARA & TUSTRA. Nun waren sie zu zweit. Das war recht amüsant, denn als Einzelne zu zweit sein war ein Zustand, den das Kunstsystem … konsequent ignorierte, mit dem man aber die Welt aus den Angeln hebeln konnte.“2
Die Frage nach der Eindeutigkeit des Subjekts, die Katharina Karrenberg im DIVENFORUM thematisiert, ist bereits zu Beginn der Prozeßarbeit in den Protagonisten ZARA & TUSTRA angelegt. Die beiden Hybridwesen – halb Mensch, halb Tier – in der Tradition von Comics gezeichnet, werden im Märchen von ZARA & TUSTRA als Verdoppelung der Prinzessin eingeführt. Katharina Karrenberg geht noch weiter. „Nach ZARAs & TUSTRAs rauschhaftem Sturz aus den ‚Désastres de la Guerra‘ von Goya trennen sich die beiden voneinander, um ihre Identitäten in Caspar David Friedrichs Landschaften, in den ‚drippings‘ Jackson Pollocks, bei Botticelli, Dante, Rodin, Schneemann und in Feldern der Hysterie und divaesken Flügen und Stürzen zu erproben,“ beschreibt sie den Entwicklungsprozeß. Nach der Trennung von TUSTRA wechselt ZARA immer wieder die Identitäten. Sie vervielfältigt sich, präsentiert sich in immer neuen Inkarnationen. Sie schlüpft in den Körper der Iris von Rodin und springt in den Performancekörper von Carolee Schneemann. Während der Fotoperformance wird ZARA zur Diva. „ZARA reißt die Grenzen nieder zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Leben und Performance, zwischen Medialität und Realität, zwischen Original und Reproduktion,“ bringt Karrenberg das subversiv-konstruktive Potential von ZARA auf den Punkt.
Hedonismus der Komplexität
„Durch die fortschreitende Auflösung der strengen Fächergrenzen haben Kunst, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Systemtheorie, Kulturtheorie, Alltagspraxis etc. die Chance, sich kritisch hinterfragen zu lassen und ihre Selbstdefinition neu zu strukturieren. Künstlerinnen als isolierte, selbständige, multidisziplinäre Subjekte, scheinen durch den Hang zum displacement in besonderer Weise geeignet, eine solche Arbeit voranzutreiben.“
(Eintrag in ZARAs Tagebuch)3
Naturwissenschaften, Technik und Medien haben den Bilderkosmos erobert und so die Rezeption von Welt grundlegend verändert. Kunst hat die Aufgabe, Welt zu interpretieren, Dinge sichtbar zu machen, die jenseits der primären Wahrnehmung liegen. Wie kann sie dieser Aufgabe angesichts der wachsenden Komplexität, Vielschichtigkeit und Vernetzung der Welt gerecht werden? Katharina Karrenberg ist sicher, daß lineare oder dialektische Modelle nicht mehr greifen. Als Antwort auf die Frage nach einem adäquaten komplexen und vielschichtigen Erklärungsansatz hat sie den Begriff R.A.U.S.CH.© geprägt. Die Versalien stehen für risky, agonal, unpredictable, synchronical changes. Sie ist überzeugt, daß Erkenntnis und Bewußtwerdung heute auf riskanten, kämpferischen, unvorhersehbaren, synchronen Veränderungen basieren.
R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA ist als kontinuierlicher Prozeß angelegt. Die Künstlerin will darin die dichotomischen Rollenverhältnisse von Künstler und Werk, Werk und Kritik, Kunst und Leben, von ästhetischer Autonomie und Lebenspraxis aufbrechen. Auf der Suche nach einem neuen Erkenntnismodell stellt Katharina Karrenberg das traditionelle Rezeptionsverhalten genauso in Frage wie die Produktionsbedingungen von Kunst. Während der Foto-Performance oszilliert sie zwischen Subjekt und Objekt. In der lustvollen, rauschhaften Inszenierung als Diva ist die Dekonstruktion des Mythos durch das Offenlegen des Konstruktionsprinzips bereits angelegt. Die Künstlerin verzahnt Produkt und Produktionsprozeß.
Die ‚Diva‘, das zentrale Motiv im DIVENFORUM, läßt sie aus Milliarden kleiner Tuschepunkte neu entstehen. „Punkte sind Realität, oder nicht? Aber die Realität löst sich auf, wenn beim Zeichnen ein gewisses Quantum an Punkten überschritten ist. Dann beginnt die Schwerelosigkeit des Körpers und des Geistes alle einengenden Begrenzungen zu überfliegen. Dann beginnt der Rausch,“ schreibt Karrenberg im Märchen von ZARA & TUSTRA. Der rauschhafte Zeichenprozeß erweitert die konzeptuelle Reflexion, öffnet Türen zu neuen Vorstellungswelten.
Denken in vernetzten Strukturen
„Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist.“
(Jaques Derrida)4
Die Prozeßarbeit R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA besteht zur Zeit aus rund 1300 Segmenten, die Katharina Karrenberg als begehbare Passage installiert. In dem Moment, in dem der Rezipient diesen Bilderkosmos betritt, wird er Teil der Installation. Wohin er seinen Blick auch wendet, immer wieder begegnet er ZARA & TUSTRA in ihren verschiedenen Inkarnationen. Immer neue Figuren und Motive erregen seine Aufmerksamkeit. Von der rechten Wand starren ihm der ‚Idiot‘ und die ‚Alte‘ von Goya aus dem DIVENFORUM entgegen. Kaum meint er einen logischen Zusammenhang erkannt zu haben, beschwört ein anderes, unerwartetes Bild neue Assoziationsketten herauf. Phänomene der Hybridisierung, das Umspringen ins Unerwartete prägen die Rezeption.
Katharina Karrenberg stellt keine logischen Zusammenhänge her, sie gibt keine Leserichtung vor. Sie macht die Verschiebbarkeit der Perspektiven sichtbar. Im strengen Rastersytem der Einzelsegmente installiert sie die Handzeichnungen wie ein Wurzelgeflecht. Es gibt keine Hierarchien, das Netzwerk kann an jeder beliebigen Stelle neue Verzweigung eingehen. Ein globales Erfassen aller Bildmotive ist auf den ersten Blick nicht möglich. Lineare, kausale Denkmodelle greifen nicht mehr. „R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA ist ein Verzahnungsprozeß, der komplexe Systeme auf verschiedenen multidisziplinären Bühnen miteinander in Beziehung bringt und Kunst, Philosophie, Soziologie, Psychologie und Naturwissenschaften punktuell miteinander verbindet,“ bringt die Berliner Künstlerin ihre Intention auf den Punkt.
Die Passage R.A.U.S.CH.© ZARA & TUSTRA ist ein Grenz-Raum mit eigenen Gesetzen. Der Rezipient muß die Passage durchschreiten, um den Raum in seiner Multidimensionalität erfassen zu können. Er kann den Raum nicht mehr begreifen, er muß ihn durchwandern. Genau diese Unbegreifbarkeit spiegelt Karrenbergs Auseinandersetzung mit dem Entstehen einer neuen Weltordnung.
„… und denken, heißt nach dem Weg tasten.“
(Umberto Eco)5