Annelise Hermes, 1999
geboren 1953 in Kesternich, Eifel; lebt und arbeitet in Wangen-Oberwälden bei Göppingen
ANNELIESE HERMES: FLUGOBJEKTE
Regina Michel
Ungestüm, kraftvoll stürmt der Pinsel übers Papier, wirbelt und kreist. Die Farbe spritzt. Satt tropft das Blau aus dem Bildraum über den weißen Rand, bleibt dabei transparent und luftig, läßt die tieferen Schichten durchscheinen. Mächtige Luftwirbel in tiefem, samtigem Blau entstehen. In leuchtendem Himmelblau strömt die Luft am riesigen Rumpf entlang. Mit Urgewalt bricht der Zeppelin durch die Wolken in die Sonne. In schimmerndem Weiß strahlt der Rumpf im gleißenden Licht. Die straff gespannte Hülle zwischen den Rippen reflektiert die Sonnenstrahlen wie die Facetten eines Diamanten in hellem Gelb und zarten Pastelltönen. Der Bauch mit der Gondel liegt im eigenen, dunklen Schatten. Im nächsten Moment scheint das Luftschiff die Grenzen des Bildraums zu sprengen und über die Köpfe der Betrachter hinweg zu ziehen. Fast meint der Betrachter, den Luftzug zu spüren. Unwillkürlich zieht er den Kopf ein, erwartet, daß der Zeppelin seinen Schatten wirft und den Raum verdunkelt. Mit der großformatigen Arbeit FlugobjektI ist es Anneliese Hermes gelungen, die Grenzen zwischen Bildraum und Realität aufzuheben. Die Realitätsebenen verschmelzen: Mit seiner enormen Präsenz greift das Flugobjekt in die Welt des Betrachters ein und versetzt ihn gleichzeitig zurück in die Zeit der Zeppeline, entführt ihn auf eine Reise durch die Zeit.
Zurück zum Duktus der frühen Jahre
Enorme Ausdruckskraft, Intensität und Lebendigkeit zeichnen das Flugobjekt I aus. Diese Charakteristika sind allen Bildern eigen, die Anneliese Hermes während des Stipendiums der Kulturstiftung der ZF Friedrichshafen AG gemalt hat. Der Duktus erinnert an die Arbeiten der frühen Jahre. Sie sind mit dem gleichen schnellen, spontanen und kraftvollen Pinselstrich gemalt. Mit der Begeisterung, ja Besessenheit, mit der sich die Malerin ihre Umwelt während und kurz nach der Studienzeit angeeignet hat, kämpft sie in Friedrichshafen mit dem Element Luft. Sie will es beherrschen, um das Wesen der Luftschiffe darstellen zu können. Die Dynamik und Stärke der Arbeiten wird gesteigert durch den Bildaufbau: Geschickt nutzt Anneliese Hermes die Diagonale. Bewußt wählt sie das Format, dem Sujet angemessen. Mit Hilfe des Bildausschnitts führt sie das Auge des Betrachters, fokussiert den Blick auf das Wesentliche.
Das Stipendium der ZF-Kulturstiftung in Friedrichshafen war für die künstlerische Entwicklung der Malerin so wichtig, wie die Zeit, die sie 1983 und 1984 als Stipendiatin des Landes Baden-Württemberg in Amerika verbracht hat. Das halbe Jahr im Turm-Atelier des Zeppelin Museums hoch über dem Bodensee erlebt sie als Zäsur. „Es gibt die Malerei vor und nach Friedrichshafen, so wie es die Malerei vor und nach Amerika gegeben hat,“ erklärt Anneliese Hermes. Während der Zeit in Friedrichshafen ist es ihr gelungen, die reife, im Laufe vieler Jahre entwickelte, Bildkomposition mit dem Duktus der frühen Jahre zu verbinden. Sie knüpft auf einer weiterentwickelten Ebene an die Anfänge an. „Ich bin froh, daß dieser Duktus wieder da ist!“ sagt die Künstlerin. Und man spürt diese Freude. Aus jedem Pinselstrich teilt sich dem Betrachter die überbordende Lust am Malen mit, zieht ihn unweigerlich in seinen Bann. Die Auseinandersetzung mit Zeppelinen und dem Element Luft haben die Malerin inspiriert und ihrer Kreativität neuen Aufschwung gegeben. Gleichzeitig hat Anneliese Hermes ein neues Sujet entdeckt: Flugobjekte.
Metamorphose von Wirklichkeit
Farbpalette und Duktus entsprechen der Persönlichkeit der Malerin. Anneliese Hermes ist ein lebensfroher, ein spontaner Mensch, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Ihre Malerei ist frisch, frech und witzig. Die 1953 in der Eifel geborene Künstlerin malt gegenständlich, doch keineswegs realistisch. Durch den Pinsel und die Farbe erfährt die Welt eine Metamorphose. Der Künstlerin gelingt es, das Wesen einer Landschaft, einer Stadt oder eines Menschen widerzugeben. „Bilder sind Erfahrungen vom Leben!“ lautet das Credo der Künstlerin.
Eine herausragende Rolle im Gesamtwerk spielen die Porträts. Dem eigentlichen Prozeß des Malens geht eine Zeit des Suchens voraus. Doch wenn sich die Persönlichkeit vor ihrem inneren Auge abzeichnet, ist die Künstlerin nicht mehr zu halten. Sie muß malen. Leidenschaftlich, ohne Vorstudie, ohne Untermalung, direkt mit Pinsel und Farbe wirft sie das endgültige Bild mit leichten, unkorrigierbaren Pinselstrichen auf das Papier.
Das Malmittel der Wahl ist Eitempera. Schnell trocknet die Farbe, bleibt trotz des kräftigen Auftrags so transparent, daß die darunterliegenden Farbtöne durchscheinen. Durch das Übereinanderschichten von Farbaufträgen entsteht Tiefe. Der Hintergrund trägt den Porträtierten und dient zur weiteren Charakterisierung. Es entsteht ein Bildraum, ja ein Lebensraum, in dem sich der Dargestellte dem Blick des Betrachters stellt, präsent und unmittelbar. Trotz der expressiven Maltechnik sind die Porträts von Anneliese Hermes subtil. Einfühlsam erfaßt sie den Menschen und fängt mit ihrem ungestümen Pinselstrich die unterschiedlichen Facetten seiner Persönlichkeit ein. Sie schaut hinter die Oberfläche und trifft den Ausdruck, der das ganze Leben verdichtet. Das verleiht den Arbeiten Kraft, Unmittelbarkeit und Lebendigkeit, die durch die Intensität der Farbe noch gesteigert wird.
Den Mythos zu neuem Leben erweckt
Anneliese Hermes porträtiert Menschen, die eine besondere Faszination auf sie ausüben. Immer wieder tauchen in ihrem Werk Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben auf: Künstler, Musiker, Schauspieler und Politiker. Alle sind sie Menschen, die ihre Zeit durch ihre Tatkraft und ihre Ausstrahlung geprägt und verändert haben, zu Mythen geworden sind. Besonders deutlich wird dies bei den Porträts von Elvis und Marylin. Geflügelt treten die beiden dem Betrachter als Mythos, als moderne Ikone, entgegen. Am Bodensee setzt Anneliese Hermes diese Reihe fort und nähert sich einem weiteren Mythos: Zeppelin.
Auf Schritt und Tritt begegnet die Künstlerin in Friedrichshafen dem Grafen Zeppelin, dessen Leben und Werk untrennbar mit dem Geschick der Stadt verbunden sind. Anneliese Hermes ist sofort begeistert. Die visionäre Kraft, mit der Zeppelin seinen Lebenstraum verwirklicht hat, fasziniert sie. Sie hat nur noch einen Wunsch: Sie will Ferdinand Graf von Zeppelin malen. Sie spricht mit Zeitzeugen, die Zeppelin noch erlebt haben. Immer wieder geht sie ins Zeppelin Museum Friedrichshafen. Sie beobachtet die Besucher, sieht die Faszination, mit der sie vor dem Lebenswerk des Grafen, den Zeppelinen, stehen. Der Mythos Zeppelin läßt sie nicht mehr los.
Langsam formt sich ein inneres Bild, das seinen Ausdruck in dem größten Porträt findet, das Anneliese Hermes bisher gemalt hat: Drei Meter breit und eineinhalb Meter hoch ist das überlebensgroße Bildnis des Grafen, der Bedeutung des Porträtierten angemessen. Format und Bildausschnitt sind bewußt gewählt, sind eines der künstlerischen Ausdrucksmittel mit denen Anneliese Hermes arbeitet. Der Bildausschnitt konzentriert den Blick des Betrachters auf den Kopf: Zeppelin, breit ausladend als Schulterstück. Anneliese Hermes wählt die Büste, eine Pathosformel, die Heroen, Herrschern vorbehalten ist. Sie stellt Zeppelin damit auf eine Stufe mit mythologischen Helden, weltlichen und geistlichen Herrschern vergangener Zeiten. Gleich römischen Imperatoren oder Fürsten der Renaissance erlebt Zeppelin eine Apotheose. Die Malerin zeigt den Grafen als „Beherrscher der Lüfte“, der das Element Luft allen Unkenrufen zum Trotz in den Griff bekommen hat. Gleichzeitig signalisiert das riesige Querformat, das vorwiegend in Blautönen gehalten ist, Ruhe und Entspanntheit. Das entspricht der positiven Ausstrahlung der Vaterfigur, als die die Künstlerin Zeppelin erlebt.
„Ohne Licht ist ein Bild tot!“, bringt die Malerin die Bedeutung dieses wichtigen bildnerischen Mittels, das ihre Farben zum Leuchten bringt, auf den Punkt. Im Porträt Zeppelin und Zeppelin bekommt das Licht noch eine weitere Funktion: Wie die Büste dient es dazu, den Grafen überirdisch zu verklären. Lichtreflexe in weichem Gelb und zartem Rosa spielen auf Nase und Kinn. Eine Aureole aus Licht umgibt den Kopf und lenkt den Blick des Betrachters auf die Augen. Der Blick Zeppelins ist intensiv. Es ist der Blick eines Visionärs, in die Ferne gerichtet. Der Graf scheint die Zukunft zu schauen, zuversichtlich und fragend zugleich. Im Zeppelin-Porträt nutzt Anneliese Hermes die Augen, die für sie immer der Spiegel der Seele sind, um die Verbindung des Visionärs mit seiner Vision herzustellen. Die Blickrichtung verläuft parallel zur Achse, auf der das riesige Luftschiff am Himmel schwebt. Im nächsten Moment müßte es das Gesichtsfeld Zeppelins erreichen.
Dient der Hintergrund bei anderen Porträts in erster Linie zur weiteren Charakterisierung des Dargestellten, scheint das Luftschiff, das auf Zeppelin und Zeppelin hinter dem Grafen schwebt, aufgewertet, fast gleichrangig, ist ebenfalls in gleißendes Licht getaucht, von einer Lichtaureole umgeben. Nicht nur der Mensch, der seine Vision, allen Widerständen zum Trotz, verwirklicht, wird zum Mythos, auch sein Lebenswerk, die Zeppeline, werden verklärt. Sie sind für Anneliese Hermes der Mythos der Neuzeit schlechthin.
Der Traum vom Fliegen
Die Affinität zu Flugobjekten ist Anneliese Hermes in die Wiege gelegt. Schließlich trägt die Künstlerin den Namen eines griechischen Gottes, dessen Attribute die geflügelten Sandalen und der Helm mit den Schwingen sind. Pop-Ikonen wie Elvis oder Marilyn hat sie schon früher mit ausladenden Flügeln als Engel dargestellt. In Friedrichshafen nimmt die Künstlerin die Herausforderung an, die das Element Luft darstellt. Die Schaffenskraft und Kreativität, die Anneliese Hermes im Atelier hoch über dem See entwickelt, ist enorm. Unzählige Variationen des Themas Flugobjekt entstehen. Auf manchen der Arbeiten wird der Zeppelin eins mit der ihn umgebenden Luft, schwebt ätherisch leicht über dem See. In anderen durchbricht er die Wolken mit seinem schlanken Rumpf, bringt die Luft zum Brodeln. Die Künstlerin erlebt die gigantischen Luftschiffe als Boten der Neuzeit, die das Zeitalter der Technik einläuten. Sie werden zum Symbol dafür, daß sich der uralte Menschheitstraum – der Traum vom Fliegen – im 20. Jahrhundert erfüllt hat.