Sandra Boeschenstein, 2010
Sandra Boeschenstein: das Double der Ursache
Die Stipendien der ZF Kunststiftung in 2010 gehen an Sandra Boeschenstein und Georg Keller aus Zürich
Grenzgänge zwischen Beobachtung und Imagination
geboren 1967 in Zürich; lebt und arbeitet in Zürich
Galerie & Edition Marlene Frei, Zürich
Galerie Idea Fixa, Basel
Galerie Klaus Gerrit Friese, Berlin
das Double der Ursache
Regina Michel im Dialog mit Sandra Boeschenstein
RM: Du hast die Zeichnung als Medium gewählt. Was sind für dich die besonderen Qualitäten der Zeichnung?
SB: Ich schätze die schlichte mediale Situation der Zeichnung als stabile Ausgangslage. Ein Blatt Papier macht klar, dass nichts Weiteres von seiner Seite folgt. Die alltägliche Realität ist an Differenziertheit und Dynamik nicht zu überbieten; ein neutrales Spielfeld und Linienmaterial sind von der realen Komplexität abgekoppelt und bieten damit eine Chance mit ihr umzugehen, sie zu untersuchen. Ballastlos und wandlungsfähig ist die Linie an keine bestimmte Wirklichkeit gebunden, sondern wählt diese stets frisch, bruchlose Systemwechsel sind ihre Stärke: Vergangenes und Zukünftiges, Wirkliches und Mögliches lassen sich auf einem Blatt versammeln. Aus denselben Metern Strich kann ein Mund oder ein Wort, ein Alpenkamm oder Begehungsrouten, ein Bildschirm oder ein Globus geformt werden. Zeichnen ist Verfügbarkeit ohne Arroganz, große Dimensionen ohne Monumentalität, da weniger Repräsentation als die Spur einer Handlung. So ist die Zeichnung reaktionsfähige Basis für das Wechselspiel von Wahrnehmen und Denken. Wobei physiologisch interessant ist, wie die Kühnheit, mit der sich die Linie entrollt, auf das Denken überspringen kann.
RM: Wie würdest du diese Verknüpfung von Denken, Wahrnehmen und Zeichnen beschreiben? Welche Rolle spielt dabei die Unmittelbarkeit der Zeichnung?
SB: Die Unmittelbarkeit des Zeichnens ist die entscheidende Voraussetzung für die gleichzeitige Begehung und Beobachtung der Übergänge von Wahrnehmen und Denken, hin und her. Auf diese Übergänge habe ich es abgesehen. Ich bin fasziniert und überzeugt von der Erkenntnisqualität, welche gerade aus dem Drall zwischen Handlung und Reflexion gewonnen werden kann. Wobei es die Tat ist, welche das Denken mitreißt: in der Linie verbindet sich Selbstverständlichkeit mit Kühnheit. Zeichnen ist direkt und rückwegslos und somit eine exponierte Tätigkeit. Exponiertheit steigert Aufmerksamkeit und Angriffigkeit, in der Handlung wie im Denken. Die Linie auf dem Blatt zu führen, erfordert eine Grundaufmerksamkeit. Außerhalb dieses Fokus springen die Gedanken, angesteckt durch die Entschiedenheit der Linie und werfen sich plötzlich in die Schärfe: so schieben sich Ahnungen noch als Ahnungen in die paradoxe Klarheit des Gedankens. Dank der medialen Transparenz und Wendigkeit können sich diese dynamischen Verhältnisse besonders deutlich „abzeichnen“. Da der zeichnerische Akt in der direkten Handlung entschieden wird, besteht die Chance, den unmittelbarkeitsgebundenen Scharnieren zwischen Wahrnehmen und Denken zuzuschauen, währenddem ich sie gleichzeitig betätige. Die Aufmerksamkeitsverteilung steht dabei in einem bemerkenswerten Kontrast zur bewährten Praxis der Konzentration.
RM: In einigen deiner Zeichnungen ergänzen Textfragmente die Bildmotive. Welche Rolle spielt dabei die Wandlungsfähigkeit der Linie und wie verhalten sich Bild und Text zueinander – vor allem auch im Zusammenspiel von Wahrnehmen und Denken?
SB: Mein Denken während der Arbeit bewegt sich in zeichnerischer Atmosphäre und Struktur, das heißt mit allseitiger Abgangsbereitschaft. Wenn sich dabei Textfragmente melden, so schieben sie sich plötzlich ins Bewusstsein, nachdem sie sich im Hintergrund an der zeichnerischen Handlung modelliert haben, um dann, in spezieller Verwendungsform der Linie, als Teil der Zeichnung zu erscheinen. Ich suche die Sätze nicht und setzte sie nur da, wo sie in ihrer Gegenbewegung zum Bild die Situation zuspitzen. Diese Gleichzeitigkeit von Bild und Sprache bringt Grenzen ins Zentrum der Arbeit: zwei Systeme, die nie in Deckung zu bringen sind und sich dennoch ausdauernd aufeinander beziehen. Wesentliches gibt der bleibende Zwischenraum preis: eigentlich arbeite ich an diesem Raum, der nicht direkt und systematisch anzugehen ist. Die Interaktion ohne Angelpunkt wird dann wirklich energisch, wenn es sich zwischen Bild und Text weder um funktionale Informationsverdichtung noch um Nonsens-Verbindungen handelt, sondern um einen dringenden Zugang auf eine Frage, die ihrer Größe und Konsistenz wegen nicht direkt und final erschlossen, sondern scharf umspielt werden kann.
RM: Zunächst hast du in kleineren Formaten gearbeitet, dann sind größere Formate hinzugekommen und mittlerweile realisierst du – wie ja schon angesprochen – immer wieder auch ortspezifische Wandarbeiten. Welche Bedeutung haben die verschiedenen Formate für deine Arbeit, deine künstlerische Praxis?
SB: Wenn Grenzüberschreitungen, dann vor allem im Bewusstsein: ich sehe es so, dass die Löcher physisch ins Material eindringen und so die Hauchdünnheit der Bildfläche offensichtlich wird. Ich bezweifle damit die Bildrealität, welche ich gleichzeitig zeichnerisch aufspanne und zelebriere. Dabei sind die Löcher ebenso ambivalent und mehrfach besetzt: einerseits sind sie Störung des idealen Bildraumes, an welchem sie andererseits als Bildelemente mitwirken. Das Unterlaufen der Selbstverständlichkeit einer bildnerischen Realität aus einem Guss ist insbesondere in ortsspezifischen Arbeiten brisant, da die Vehemenz des Realraumes mitspielt.
RM: Zunächst hast du in kleineren Formaten gearbeitet, dann sind größere Formate hinzugekommen und mittlerweile realisierst du – wie ja schon angesprochen – immer wieder auch ortspezifische Wandarbeiten. Welche Bedeutung haben die verschiedenen Formate für deine Arbeit, deine künstlerische Praxis?
SB: Durch Formatwechsel kann ich mir viel entlocken, weil sich mit der physischen Situation auch Rhythmus und Perspektive ändern. Ich richte es mir so ein, dass ich gleichzeitig einen großformatigen und einen kleinformatigen Zyklus aktiviert habe. Mit diesen zwei parallelen Formaten arbeite ich gern über lange Phasen, sodass ich ihr Energieraster kenne und kompositionelle Fragen keine separate Rolle spielen, sondern zum unmittelbaren Begehungsmodus der Blätter werden. Mit kleineren Formaten kann ich in einer Frage, die sich aufheizt, spazieren und von Blatt zu Blatt in anderer Richtung und Distanz auf die Ahnung zugehen. Wenn ganze Vorstellungskaskaden kommen, nehme ich das Arbeitsheft und lasse die Bildfelder auf den Seiten bei zunehmender Assoziationsdichte kleiner werden. Auf große Formate wechsle ich nur dann, wenn ich merke, dass bei mehr Platz auch mehr erscheinen kann und sich im langatmigen Arbeiten ein atmosphärischer Zugang auftut. Ein großes Blatt wird sogleich zum Gegenüber, das ich in jedem zeichnerischen Zustand wieder neu kennen lernen muss, stehend und schauend. All die nicht gezogenen Linien sind Arbeit an der Spannung der Leerräume. Die ortsspezifische Arbeit ist ein brisanter Spezialfall, da der Bildraum gleichzeitig und 1:1 unser Aufenthaltsort ist. Diese physische Konsequenz und die Gegebenheiten der Situation sind die grundlegenden Energien, welche zu verführen sind. Ich schätze Zeichnungen auf der Wand als zarte Behauptungen im Realraum.
RM: Welche Zugangsmöglichkeiten bieten deine Arbeiten dem Betrachter?
SB: Zeichnen ist wesentlich eine Frage des Weglassens und das faszinierende Spiel mit dem verlässlichen Ergänzungsakt durch die Betrachtenden, welche Erfahrung und Materialität investieren, wenn die Verlockung gelingt. Es ist mir wichtig, dass der Zugang zum Werk nicht verengend über mich als Person führt. Von mir ist nicht mehr gegeben als das Gezeichnete, danach sind die Werke autonom. Was das Schauen lenkt ist sichtbar und das ist alles, was ich an Definiertheit hineinlegen will. Der Rest ist Spielraum, den ich durch meine Setzungen präpariert habe, auch für mich. Nach Abschluss der Arbeit bin ich quasi die erste Betrachterin meiner Zeichnung. Ich begünstige meinen Wunsch nach unvermitteltem Zugang zum Werk durch die scharfe Gegenständlichkeit und das Zurücknehmen von Expressivität in den formalen Mitteln, sodass sich der Betrachter idealerweise so selbstverständlich im Werk bewegt, wie er über einen unbekannten Platz geht. Die Zeichnung wartet, wir können auf sie zugehen. Sie ist ein Angebot, eine verdichtete Ausgangslage mit erhöhtem Appelationspegel durch Reduktion. Das eigentliche Resultat der Zeichnung sind die stets frischen Rezeptionsbewegungen, die Eigeninvestition von Realitätsgehalt durch die Betrachtenden.
RM: Ungewohnte Kombinationen ganz alltäglicher Motive und Kontextverschiebungen fallen in deinen Zeichnungen auf, sie sind sehr komplex und vielschichtig, transportieren mehrdeutige Informationen.
SB: In einer diskontinuierlichen und medial unhomogenen Realitätskonstitution gehören Kontextverschiebungen zur Struktur der Gefügtheit unserer Erfahrungen. Ich setze gezielt Dinge in Beziehung, wenn ich an die Ergiebigkeit genau dieser Konstellation glaube und zeichne, um sie zu sehen. Dies nicht im Hinblick auf einen ruhenden Sinn, sondern auf einen Sinndrall. Ich suche Alternativen zum statischen Sinnbegriff, da dieser nur greift, wenn ich bereit bin, die eigentliche Komplexität zu reduzieren. Ich versuche in meiner Arbeit präzise Situationen zu komponieren, in denen die vermeintliche Klarheit versagt, und dies möglichst gerade erst im Betrachtungsakt selbst geschieht. Solche Ambivalenzen sind die kleinen und nachhaltigen Motoren, welche mit Betrachterenergie betrieben sind, sofern es die Zeichnung schafft, aus einer Mischung von leiser Provokation und Verführung, Behauptung und Frage oder Überraschung, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Gerade weil die Zeichnung so „lowtech“ vor uns steht, wird die Verworrenheit und Unruhe in uns selbst geortet und ist von der Zeichnung angestiftet. So stehe ich in der Untersuchung der Grenzen der Untersuchbarkeit da, wo die Komplexitätsreduktion, die jeder Untersuchung legitimerweise innewohnt, in der Strömung ihren Halt verliert. Dies sind die Situationen, welche ich von der temporär geschätzten Klarheit herkommend suche, um dem Verhalten von Sinn in prekären und exponierten Zonen zuzuschauen. Es ist der Versuch der Realität zu begegnen und zuzuspitzen, ohne zu beschneiden.
RM: Der Titel der Ausstellung heißt „das Double der Ursache“. Welche Rolle spielt das Double, der Stellvertreter für deine Arbeit?
SB: Die Rolle des Double für meine Arbeit beschreibe ich am liebsten nur mit meinem Satz „schlafen als Stuntman, aufstehen als Künstlerin“. Nun aber gerne etwas zum „Double der Ursache“: ein Double ist eine existenzielle Drehscheibe. Ein Körper, der sich anstelle eines anderen präsentiert oder gar exponiert, zeigt die allgemeine Abnahme der bruchlosen Unmittelbarkeit durch die Zunahme von Stellvertretern zur Erhöhung der Verfügbarkeit. Es geht um die Frage von „stehen für“ oder „sein“: Existenz ist nicht mehr, sondern sie ist konstruiert. Zugespitzt frage ich in den toten Winkel hinein: Kann die Simulation des Zufalls schlanker sein als die Welt als Ganzes? Und „das Double der Ursache“? So nahe am Ursprung der Kausalkette wird ein Double normalerweise nicht eingesetzt: Wie wird ein Ursprungsimpuls gedoubelt, ohne dass die nachfolgende Kausalkaskade in Frage steht, was dem Ursprung wiederum das Anrecht auf seine Bezeichnung nimmt und schließlich auch dem Double sein Original entzieht. Da bleibt nichts als unsere markante Erkenntnisbewegung und das ruhige Schriftbild. Ich mag diesen Titel, weil er sich so ähnlich verhält wie eine Zeichnung, ohne Anfang und Ende, die Gedanken können sich allseits davon abstoßen. „das Double der Ursache“ ist eine jener kompakten Wortgruppen, die sich mir während dem Zeichnen in den Kopf setzen, zuerst ganz nebenbei und still, bis sie mich mit ihrem Perpetuum-Mobile-Charakter herausfordern und ich gern auf die Wörter zurückblicke, die noch immer zu viert dastehen, währendem sich der Kopf um seine Fragen dreht.
PREKÄRE ZONEN
Zu den Zeichnungen von Sandra Boeschenstein
Magdalena Holzhey
„Im Anfang“, sagt der griechische Philosoph Anaxagoras, „war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung.“1 Obwohl der Vorsokratiker mit seiner Idee des „Nous“ nicht den Verstand des Einzelnen, sondern einen überpersönlichen, ordnenden Weltgeist meinte, der die im Ursprung chaotische Masse durch Bewegung in einzelne Dinge zu trennen beginnt, setzt er an einer epistemischen Grundvoraussetzung an. Erst im Moment des Trennens und voneinander Unterscheidens wird rationale Erkenntnis möglich, entsteht Bestimmtheit in Abgrenzung des einen vom anderen Ding. Mit anderen Worten: Der Verstand ordnet, indem er ein ursprüngliches Kontinuum in streng unterschiedene und hierarchisierte Bedeutungseinheiten zergliedert, und alles, was an Bedeutungsüberschuss übrig bleiben könnte, aus diesem System verbannt. In ihrem dritten Künstlerbuch stellt Sandra Boeschenstein die Frage nach solchem scheinbaren Ausschuss: „Was sind deine Reste“2. War der ordnende Geist für Anaxagoras Garant für die Stabilität und Schönheit der Welt, so interessieren Sandra Boeschenstein gerade die Systemränder und Grauzonen, jene Bereiche, die die Logik menschlicher Verstandesarbeit leise und nachhaltig auf den Kopf stellen. Ihre Zeichnungen zeigen Welten, in denen alles geordnet scheint, aber dennoch nichts verständlicher ist, oder besser, die danach fragen, wie man etwas so Komplexem und Heterogenem wie der Wahrnehmung von Wirklichkeit eine Form geben kann. „Meine Damen und Herren, die ungelösten Kausalnähte trage ich im Futter des Mantels.“, notiert sie mit dem ihr eigenen Sprachwitz auf einem Blatt.
Die klassische Logik scheitert an diesen Zeichnungen, auch dort, wo Bilder und Sprache in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. „Tunnel ohne Terrain“ vereint Sujets aus der Bergwelt. Motive, die einem Abbild von Wirklichkeit näher scheinen, ein Steinbock, ein Tunnel im Gebirge, sind als Bild im Bild auf eine zweite Ebene gerückt, während Teile von Röhren funktionslos und biegsam geworden über Nägeln an der Wand hängen, die mit dem gestempelten Bild einer abstrahierten, auf dem Rücken liegenden Kuh tapeziert ist. Auch die sprachliche Information, die innerhalb der Logik des Bildes funktioniert – die Tunnelstücke sind eben dort aufgehängt, weil sie kein Terrain haben –, ist nur ein weiterer Baustein in der Auseinandersetzung mit der Komplexität sinngenerierender Handlungen. Die Absurdität der Bilderzählung ermutigt zum Versuch einer bildtheoretischen Lesart: der Tunnel als Metapher für ein Eindringen in tiefere Schichten, ergänzt durch die Schwärze kreisrunder Löcher, das Bild im Bild als ein Befragen unserer Vorstellung von Wirklichkeit und Wahrnehmung – all dies schwingt mit und hält die Zeichnung in einem ambivalenten Zustand.
Wer sich diesen Zeichnungen (be)schreibend nähert, stößt schnell an die Grenzen des Erklärbaren. Die Blätter beherrscht eine Atmosphäre des Eigentümlichen, die sich nicht nur den Motiven, sondern vor allem dem Einsatz formaler Mittel verdankt. Die Linienführung ist präzise, Expressivität oder subjektive Befindlichkeit sind so weit wie möglich zurückgenommen, die geradezu akribische Gegenstandsbeschreibung ermöglicht eine unmittelbare Begegnung mit der gezeichneten Situation. Die perspektivische Darstellung erzeugt den Eindruck, wir schauten jeweils in einen Raum, der von einer starken, nicht sichtbaren Lichtquelle erhellt wird. Schlagschatten verleihen den Objekten körperliche Präsenz und lassen sie wie ausgeleuchtet erscheinen – Mittel, die größtmögliche Klarheit erzeugen und doch nichts klären; Klarheit und Verrätselung scheinen einander zu bedingen. Es sind eben diese Bereiche versagender Klarheit, die Sandra Boeschenstein erforscht, „weil mich“, sagt sie, „diese genaue Energie fasziniert, welche frei wird, wenn Klarheit und bestimmte Ordnung kollabieren: die präzise Unklarheit unmittelbar neben oder nach der Klarheit.“
Zum Aufsuchen jener „präzisen Unklarheit“ gehört es auch, dass Ordnungssysteme aufgerufen werden, die eine eindeutige Lesbarkeit der Zeichnungen erst einmal zu begünstigen scheinen. Die Szenen speisen sich aus einer bestimmten, ganz alltäglichen Dingwelt. Dazu gehören beispielsweise Brote, eine Sackkarre, Fernrohr und Mikroskop, Tiere, Hände oder Handschuhe, Schuhe, Laptops; weiterhin Tische, Bilderrahmen, Regalbretter, Teppiche, modellhafte Landschaftsausschnitte, Elemente also, mit deren Hilfe verschiedene Erzähl- und Bedeutungsebenen innerhalb eines Bildes erzeugt werden. Die wiederkehrenden Zeichen erzeugen das Gefühl, hier liege ein gewissermaßen wissenschaftliches Interesse vor, eine Systematik des Fragens, die in visuelle Untersuchungsreihen gegliedert wird. Man könnte von einem ikonischen Code sprechen, der sich einem allgemein gültigen Konsens jedoch verweigert und den Eindruck einer geordneten Welt aus erlern- und lesbaren Zeichen als scheinbaren entlarvt. Wenn hier ein wie auch immer gearteter Vorgang der Untersuchung suggeriert wird, so sind es wiederum die Ränder des Systems, die „Grenzen der Untersuchbarkeit“ folglich, welche die Künstlerin interessieren. Verschiedene ihrer wiederholt auftauchenden Bilder, als Zeichensysteme gelesen, reflektieren Erkenntnismethoden, die auf eine Analyse der Welt nach exakten wissenschaftlichen Methoden – Messbarkeit, Sezierung, Vergrößerung, Isolierung von Details – verweisen. Der Reduktionismus der exakten Wissenschaften beschneidet notwendigerweise die Komplexität der Erscheinungen, indem er, um zu aussagekräftigen Erkenntnissen zu gelangen, ein Detail aus größeren Zusammenhängen isolieren muss. Gleichzeitig ist es eben die Einsicht in die Abhängigkeit jedes Ergebnisses vom beobachtenden System, die das naturwissenschaftliche Weltbild des 20. Jahrhunderts prägt. Der Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaften – die Überzeugung, eindeutige Antworten auf Tatsachenfragen finden und im Sinne eines geschlossenen naturwissenschaftlichen Weltbildes interpretieren zu können – wurde mit der Entwicklung der Quantenphysik unhaltbar. Aus der so genannten Unschärferelation etwa, mit der Werner Heisenberg den Welle-Teilchen-Charakter eines Elektrons beschrieben hat, folgt, dass es keine Eindeutigkeit und Objektivität mehr geben kann; die Wahrheit eines wissenschaftlichen Versuchsergebnisses hängt immer von den Umständen der Beobachtung und damit vom menschlichen Handeln ab. Oder wie der Physiker Niels Bohr es ausdrückte, Klarheit und Wahrheit sind komplementäre Größen.
Fasziniert von den Unschärfen empirisch-kognitiver Vorgänge untersucht Sandra Boeschenstein, was passiert, wenn Wahrnehmen und Denken nicht zeitlich aufeinander folgen, sondern innerhalb des zeichnerischen Prozesses ineinander gleiten. Ihre Szenen folgen deshalb keiner geplanten Struktur, sondern entstehen sukzessive im und durch das Zeichnen selbst. Der Ausstellungstitel „das Double der Ursache“ lässt ein lineares Denken ebenso wenig zu. Ursache wofür? Wie kann eine Ursache adäquat ersetzt werden? Und was geschieht dann mit der Wirkung? Sandra Boeschensteins Arbeiten können auch als Reflex auf den menschlichen Drang verstanden werden, die Welt und ihre Erscheinungen zu ordnen, zu klassifizieren, in Kausalketten zu verknüpfen, kurz, sie zu beherrschen. Vor allem aber sind sie der aktive Versuch, der komplexen Wahrnehmung von Welt direkt zu begegnen und Alternativen zu einem statischen Sinnbegriff zu entwickeln, denn, so die Künstlerin, „eine Ahnung, eine Atmosphäre, eine Situation ist nicht auf Sinn zu reduzieren.“
„Draw a distinction and a universe comes into being.“ Der erste Satz aus den Laws of Form (1969) des Mathematikers George Spencer Brown lässt sich – schon aufgrund der starken Visualität, die der englische Ausdruck suggeriert – überzeugend auf eine Medientheorie der Zeichnung übertragen.3 In unserem Kontext ließe sich das Diktum als eine etwas gewagte medientheoretische Aktualisierung von Anaxagoras‘ Ordnungsprinzip betrachten: „Die Linie erschafft mit ihrem ersten Strich auf dem Papier ein Universum. Vorher war alles nichts, ungetrennte Potentialität. […] Erst die Linie stiftet ein Universum als Setzung. Sie bestimmt dieses Universum, indem sie es in zwei Teile teilt.“4 Die Linie ist eine paradoxe Grenzziehung. Sie markiert einen Ort auf dem Papier, der zwei Seiten trennt und diese gleichzeitig als Gemeinsames verbindet, sie trifft eine Unterscheidung und synthetisiert.
Sandra Boeschensteins Linienführung lässt in ihrer Schärfe und Präzision die um sie herum entstehende Leere umso stärker hervortreten: Räume im Schwebezustand. Die Künstlerin lotet die ambivalenten Möglichkeiten der Zeichnung nicht nur, wie wir gesehen haben, in ihren fremdreferentiellen Verweisungsfunktionen aus, sondern arbeitet auch mit den verschiedenen Aggregatzuständen und Potentialitäten der zeichnerischen Mittel. Bezeichnendes und nicht Bezeichnendes, konkretes Bild und gedanklicher Raum durchdringen einander. Auf ihren Zeichnungen existieren Linien, die Gegenstände beschreiben, neben solchen, die abstrakte Verbindungen markieren, sich je nach Art ihres Verweischarakters in Punktreihen auflösen und wieder verdichten; Punkte werden wiederum zu Leerstellen, zu Löchern im Bild, ein Messer dringt in den Boden eines Raumes ein und öffnet die Bildebene in ein imaginäres Darunter, fallende Tuschetropfen werden zu Elementen der Bilderzählung. In den vor Ort entstehenden Wandarbeiten tritt die räumliche Ebene hinzu: Feinste in die Wand gestanzte Löcher und vor die Wand gespannte Fäden ergänzen die gesetzten Linien, Punkte und Stempel und werden Teil eines hybriden Systems, in dem sich keine feste Bezugsebene etablieren kann.
„11 Handschuhe mit 1 Durchschuss vereint“ zeigt eben dies: 11 Handschuhe, hintereinander schwebend in einer Vitrine, ihnen gegenüber eine weitere Vitrine mit einem Gewehr darin, auch dieses schwebend. Der „Durchschuss“ ist als fein gepunktete Linie zu erkennen, die Glas und sämtliche Handschuhe durchlöchert und das Blatt am jenseitigen Ende wieder verlassen hat. Diese Linie scheint es auch zu sein, die die Handschuhe wie an einer Schnur aufgereiht in ihrer schwebenden Präsentation hält. Im Schwebezustand scheint hier alles: Die paradoxe Verbindung von Loch und Vereinigung, von unzugänglichem Innen- und undefiniertem Außenraum, die latente Bedrohlichkeit durch den aus der Vitrine ragenden Gewehrkolben, der in der Leere der Umgebung als der am stärksten exponierte Ort wahrgenommen wird.
Sandra Boeschensteins Zeichnungen öffnen gedankliche Freiräume, schaffen Denk- und Interpretationsleerstellen, die der Betrachter mit Realitätsgehalt, Seherfahrungen und inhaltlichen Erwartungen ergänzt – ohne zu einer verlässlichen Auflösung zu gelangen. Dieser prekären Zone ist eine kognitive Instabilität eigen, die sich im Akt der Betrachtung als produktive Unruhe äußert. Sicherheit, soviel steht fest, befindet sich längst als „Tasche in Haft“.