Florian Graf, 2012

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geboren 1980 in Basel; lebt und arbeitet in Basel, London, Berlin


Vita
1999 – 2005
Studium Architektur ETH Zürich
Willi-Studer-Preis für den besten Abschluss in Architektur
2007 – 2009
Edinburg College of Art
2009 – 2010
Fulbright Fellowship, School of the Art Institute of Chicago
Preise und Stipendien (Auswahl)
2015
Kulturförderpreis der Alexander-Clavel-Stiftung
2012
Stipendium ZF Kunststiftung
2010
First Prize Competition Abbatiale de Bellelay
2008
DAAD Stipendium
2007
Stipendium Edinburgh College of Art
Einzelausstellungen (Auswahl)
2015
Chamber Music, Kunst Halle Sankt Gallen
2014
Acting Stolby, Krasnoyarsk Museum Center
2013
Swiss Art Award, Kunsthalle Basel (Gruppenausstellung)
2012
Scene One, Take You, La rada, Film Festival, Locarno 
Ghost Light Light House, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
2011
Well, Come, Abbatiale de Bellelay
2010
Waltzing Walls, Art Chicago, Special Exhibitions
2009
Vorfreude, mit Olga Schulz, Goethe Institut Glasgow
Katalogtexte

MODELL, MOMENT, MONUMENT.
Zur Arbeit Ghost Light Light House von Florian Graf

Mechtild Widrich

Architektur und die Erwartung ihrer Beständigkeit hängen mit unserer Sehnsucht nach einem sicheren Ort, einem Zuhause zusammen. Der Leuchtturm, der die Anlegestelle für die Nacht, oder den sicheren Weg in den Heimathafen weist, ist wörtlich wie übertragen die Ankündigung eines Stützpunktes. Ein vom Künstler entworfener über acht Meter hoher Leuchtturm auf einem Ponton wurde im September 2012 von Motorbooten an unterschiedliche Stationen im Bodensee verfrachtet, tauchte gewissermaßen unvorhergesehen wieder auf, spukte über den See. Das, was sonst Schiffen den Weg anzeigt, fest am Ufer verankert ist, war nun losgelöst, angewiesen auf die Hilfe eines der Schiffe, die sich normalerweise an ihm orientieren. Der Turm war also seiner vordergründigen Bestimmung beraubt, nicht mehr anonyme, funktionale Architektur und zugleich malerisches Postkartenmotiv, sondern Kunstwerk, und damit Verweis wiederum auf die Geschichtlichkeit und den unterschiedlichen Gebrauch seines Vorbildes. Er wurde zum ephemeren Monument, zum seiner Autorität beraubten Machtsymbol. Light House (englische Übersetzung von Leuchtturm) in Verbindung mit Ghost Light ist doppeldeutig. Ghost Light bedeutet Irrlicht und spielt an auf gespenstische Mythen, z. B. das Geisterschiff. Light House weist auch auf die tektonischen Eigentümlichkeiten des architektonischen Gebildes von Florian Graf hin: Light heisst nicht nur Licht, sondern auch leicht. Und tatsächlich ist sein Turm nicht aus Stein, sondern aus dünnen Holzpaneelen gezimmert. Die Aktion fand großes Publikums- wie Presseecho, und die Arbeit wurde innerhalb des institutionellen musealen Kontextes weitergeführt.

Im Ausstellungsraum des Zeppelin Museums findet sich wiederum ein Leuchtturm, nun zwei Meter hoch. Die Funktion des Objektes, das einem gekappten Obelisk gleicht, ist die eines Behälters. An Stelle der Laterne befindet sich ein Projektor, und der von dort projizierte Film ist Verweis und zugleich Teil des Verwiesenen: Verweis auf die Aktion, in welcher Graf die Turmskulptur auf Reisen schickte und zugleich Teil derselben Arbeit. Die Installation im Ausstellungsraum ist nicht einfach ein Relikt mit medialer Dokumentation: der sich drehende Projektor schafft eine panoramaartige Medieninstallation, in der wir uns wiederum einen Orientierungspunkt suchen müssen. Und das vermeintliche Relikt ist ein verkleinertes Modell des authentischen Werkes auf dem See. Im Ausstellungsraum wird das Modell zum Monument der Vergangenheit, zum verkleinerten Denkanstoß, der das Denken in verschiedene Richtungen lenkt. Es ist dies die Zweideutigkeit, auf die das lateinische Lehnwort replica hinweist: exakte Kopie, aber auch Replik, Erwiderung.

Mit diesem Doppelleben des Leuchtturms im Visier, fällt die formale Treue des Modells am Original, trotz aller Veränderung der Dimension und Funktion, plötzlich ins Auge. Dies zwingt uns zu fragen, was die Konturen des traditionellen Leuchtturms bauhistorisch gesehen bedeuten. Der Unterschied zur fast pyramidal wirkenden Struktur und der sanfteren Biegung konventioneller Leuchttürme wird augenfällig in einem Foto, das Grafs Arbeit zwischen dem Lindauer Leuchtturm und dem dortigen Bayrischen Löwen zeigt. Man denkt an einen Obelisken. Der Obelisk, der im alten Ägypten den Sonnenstrahl symbolisierte, also die Verbindung zur göttlichen Welt, der insofern die Richtung angab zwischen dem Leben und dem Tod, zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen dem eigenen Sein und dem Makrokosmos der Götter und des Schicksals, bietet nicht, wie ein Leuchtturm, Sicherheit in der Gegenwart, sondern scheint sich in der Spannung zwischen Gegenwart und (imaginierter) Vergangenheit selbst zu verlieren.

Nicht überraschend haben solche vorchristlichen Anspielungen an die Ewigkeit die Architekten der Aufklärung angelockt. Formale Anlehnungen an die meist utopischen Architekturentwürfe der französischen Revolutionsarchitekten wie Étienne-Louis Boullée oder Claude-Nicolas Ledoux sind in der Wahl des klassizistisch wirkenden Obelisken eindeutig und vom Künstler gewollt. Die Entscheidung für eine leichte Strebestruktur mit Ummantelung lässt uns zusätzlich an ephemere Festarchitektur denken, an eine Inszenierung, eine Geschichte, die hier erzählt wird, in welcher Mythen, an denen die Region um den Bodensee reich ist, aufgenommen, angedeutet und wieder belebt werden. Dass ein schwimmendes Monument traditionelle Beziehungen zum Ort stiften kann, mag paradox erscheinen. Für den konservativen Architekturhistoriker Hans Sedlmayr waren die ornamentlosen gigantischen Entwürfe von Boullée, vor allem die Verwendung einfacher Grundformen wie enorme Kugeln, die über der Erde zu schweben schienen (so sein Vorschlag für den Newton-Kenotaph, 1784), der Beginn einer wortwörtlich bodenlosen Kunst ohne Heimat und ohne göttliche oder gemeinschaftliche Inspiration. ›Verlust der Mitte‹ nannte er sein gegen Ende des zweiten Weltkrieges geschriebenes Buch, das eine Abrechnung nicht nur mit der modernen Kunst war, sondern vor allem auch ihrer Autonomie, ihrer angeblichen Funktionslosigkeit, sobald sie sich aus ihrer dienenden Haltung gegenüber Kirche und Staat befreien wollte. Für Graf, der an der ETH Architektur studiert hat, bevor er sich am Edinburgh College of Art und später am Art Institute of Chicago dem Studium der Kunst widmete, stellt sich die Frage nach der Funktion und ihres Fehlens auch aufgrund seiner Profession: der Konflikt an der Schnittstelle Kunst und Architektur entzündet sich fast immer an dieser Frage. In vielen seiner Arbeiten befreit er architektonische Formen von ihrer vermeintlichen Bestimmung, sei es durch kleine Bauannexe, die an ›Alice im Wunderland‹ erinnern, sei es durch imaginäre fliegende Betonmonolithen oder losgelöste Ausstellungswände, die Sedlmayrs Ängste humorvoll verkörpern. Das Kunstsein solcher Projekte eröffnet ihnen damit ein Potential, das innerhalb der Architektur schwer möglich ist, das Bestehen außerhalb eines konkreten Sinnzusammenhanges, wodurch wiederum ein Gedanken- und Erfahrungsraum im Sinne dessen eröffnet wird, was Umberto Eco einmal als offenes Kunstwerk bezeichnet hat.

Der Leuchtturm, der selbst die Orientierung verloren hat, statt sie zu geben, kann somit als Symbol auch der künstlerischen Herangehensweise von Graf gedeutet werden. Darüber hinaus bieten sich im Grenzgebiet zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz selbstverständlich politische Interpretationen an: der Turm, der die Grenzen überschreitet, und als poetisches Mal den See überquert, das scheinbar unbeschwerte Gleiten, das an die Leichtigkeit der Zeppeline erinnert, die hier so erfolgreich gebaut wurden, und deren poetische Schönheit ihre Bedeutung als Kriegsinstrument verschleiert.

In der Tat ist Bewegung im Œuvre des Künstlers ein wiederkehrendes Motiv, und im Speziellen die Umkehrung von stabilen architektonischen Formen in Sinnbilder der Unbeständigkeit und Verlorenheit. Im Jahr 2010 lies der Künstler im Rahmen der ›Art Chicago‹ Stellwände auf Wanderschaft gehen. Waltzing Walls‹ nannte er die Arbeit, welche das typisch banale Arrangement kommerzieller Kunstmessen aufgriff: die weiß gestrichenen neutral anmutenden Wände, die an die Größe des Standes angepasst werden können und einen temporären Verkaufs- und Schauraum schaffen, in denen sich die Kunstwerke ohne jegliche Atmosphäre gegenüber ihren Konkurrenten behaupten müssen. Grafs Wände, inklusive der darauf angebrachten Bilder, waren allerdings auf Räder gestellt und wurden in unterschiedlichen räumlichen Kontexten zu Störfaktoren. Sie stifteten nicht nur Verwirrung, sondern auch Unmut unter den Galeristen: In diesem Fall lässt sich die Arbeit einerseits als Kommentar zum Kunstmarkt und der künstlerischen wie ideellen Position des Künstlers in seiner institutionellen Rahmung lesen. Andererseits ist es wiederum die vermeintliche Stabilität der Architektur, die sich als Illusion herausstellt. Das Paradigma der Wand als tragendes Element – wie Turm oder Säule essentieller Bestandteil dessen, was wir als Architektur interpretieren – wird hinterfragt und ihre symbolische Rolle jenseits der klaren Zweckgebundenheit an der Reibungsstelle zwischen Kunst und Architektur ausgelotet.

Zur gleichen Zeit als Grafs Irrturm auf dem Bodensee unterwegs war, konnten Besucher einer Ausstellung in Grafs Heimatstadt Basel, die dem Russischen Künstler Vladimir Tatlin gewidmet war, gleich zwei der Modelle für den berühmten Turm sehen, den Tatlin für die Dritte Internationale von 1919 entworfen hat. Damals entsprach dieses Gebilde, das irgend-wo zwischen Eiffelturm und Medienmaschine anzusiedeln ist, der Wunschvorstellung eines kommunikativen Monuments, eines echten Volksmonuments. Teile des Turmes sollten sich bewegen und Abteilungen des damals revolutionären Staates aufnehmen. Die Propagandaabteilung etwa, Vortragsräume, oder eine Radiostation, über die richtungweisende Ideen verbreitet werden sollten. Die Bewegung suggerierte Interaktion als Überwindung des traditionellen, statischen Denkmals, so wie es generell eben nicht mehr einem großen Mann huldigen, sondern die Masse des Volkes adressieren und dadurch symbolisieren sollte. In einem Interview bezeichnet Graf die utopische Vorstellung des bewegten Monuments als Ruine – als gescheiterte Illusion, und tatsächlich muss uns Tatlins Entwurf mit seiner propagandistischen Autorität und seiner trotz der komplexen Struktur eindimensionalen Funktionalität problematisch erscheinen. Was den zeitgenössischen Künstler und den Konstruktivisten verbindet ist der bewusste Einsatz des Modells, nämlich die utopischen Dimensionen des echten, fehlenden Turms – ob dieser abgebaut wurde, wie im Fall von Graf, oder nie zustande kommen konnte wie bei Tatlin, mag dabei eine Nebenrolle spielen.

In Ergänzung des temporären Kunstwerks, des Ereignisses durch sein nachträglich gebautes Modell, wird letzteres zum beständigen Kunstwerk, zum fertigen Objekt, das sich bestaunen und sammeln lässt. Obwohl nicht Teil der skulpturalen Aktion, ist es das, was nun im Ausstellungsraum zurück bleibt. Das Modell als Resultat ist Motiv bei Tatlin oder den Revolutionsarchitekten, wie die freie Skizze des akademischen Malers und das Stück zerknitterte Papier bei Frank Gehry. Bei Graf hingegen scheint der Zeitfaktor ein wichtiger Hinweis auf eine mögliche Verallgemeinbarkeit der Arbeit zu sein. Das Herausheben des Turmes aus seiner Permanenz (so zumindest die Zuschreibung von Leuchttürmen), das Festschreiben einer Zeitspanne, in welcher der Turm nicht nur seine Position wechselt, sondern auch für die Zuschauer zur Veränderung der Umgebung, der Landschaft, des gewohnten Bildes des Ortes führt, und die Speicherung dieses Ereignisses auf Film, sollte möglicherweise nicht lediglich chronologisch gelesen werden. So wie Modell und ausgeführtes Objekt ihren traditionellen Platz in der zeitlichen Abfolge wechseln, so zeigt sich in der Bewegung des Projektors im Ausstellungsraum doch eigentlich die Vergangenheit, wird die vergangene Aktion durch seine Speicherung auf Film und die Möglichkeit viel mehr zu einem monumentalen Ereignis als der Turm, der nicht mehr Teil der Arbeit ist. Vielmehr müssen wir Modell und Vorbild als ineinander verschachtelt verstehen, als räumlich wie zeitlich sich jeweils einschließendes Konstrukt, das uns bewusst macht, dass Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung sich in unseren Köpfen zu einem Gesamteindruck zusammen schließen, der individuell und eben doch nie wirklich gesamt ist.

Giotto, der Anfang des 14. Jahrhunderts als Architekt und Künstler tätig war, lässt in der Arenakapelle in Padua den Stifter der Kapelle, Enrico Scrovegni, während des Jüngsten Gerichts das Modell derselben Kapelle der Jungfrau Maria präsentieren. Ähnliches gibt es bei Sprachen, deren Syntax selbst in der Sprache formulierbar ist (was Rudolf Carnap autosyntaktische Sprachen nannte). Das Modell ist in solchen Fällen unvollständig – denn, wenn das Modell schon Teil der Sprache oder des Bildes ist, müsste es, um vollständig zu sein, auch sich selbst vertreten, und diese Darstellung von sich selbst in sich würde ins Unendliche führen. Wie etwa sollten wir uns Giottos Gemälde wieder in seiner kleinen gemalten Kapelle geschrumpft vorstellen? Das Modell als Teil des Kunstwerkes kann uns wohl als Licht in der Finsternis dienen, wie es von einem Leuchtturm verlangt wird – nur, um uns nicht von den Geisterlichtern irreführen zu lassen, müssen wir auf die Vollständigkeit des Bildes verzichten.

 

Ansichten und Aussichten

Markus Krajewski im Dialog mit Florian Graf

Das Projekt und sein Macher. Ein Gespräch über irrlichternde Leuchttürme, flottierende Zeichen und einen geschickten Schachzug.

MK Lassen Sie mich mit einer Frage zum Subjekt hinter dem Objekt beginnen, also zu Florian Graf gleichsam als Irrturmwärter. Was bewegt eigentlich einen Architekten, einen formschönen, schlicht im Bauhaus-Stil gehaltenen, eigentlich stabil im Boden befindlichen Baukörper wie einen Leuchtturm in Bewegung zu bringen und auf eine Reise über den See zu senden?

FG In diesem Jahr wohnte ich einige Monate in einem Turm direkt am Bodensee in Friedrichshafen. Der Turm ist Teil des ehemaligen Hafenbahnhofs, in dem Eisenbahnzüge auf Schiffe verladen wurden, um über den See gebracht zu werden. Die Architektur des Bahnhofs aus den frühen 30er Jahren ist eine interessante Mischung aus Bauhaus-Elementen und monumentaler, den Stil des Dritten Reichs vorweg nehmender Steinarchitektur. Nachts blickte ich oft auf den See, der an drei Länder grenzt. Ich erlebte Sturm, der gegen den Turm trieb und Regen, der ans Fenster klopfte. Dabei entstand der Traum, meinen eigenen Turm zu bauen, um damit in See zu stechen.

MK Sie sind Entwickler und Erbauer, aber in gewisser Weise auch Verwalter dieses Turms, indem Sie auf und in Ihrem Objekt stehend mit ihm herumfahren, was Sie zu einem regelrechten, aber auch ungewöhnlichen, weil mobilen Leuchtturmwärter macht. Dieser figuriert nicht zuletzt auch als ein literarisches Motiv, welches sich durch Momente der Isolation, Einsamkeit und auch der Langeweile auszeichnet. Sie bewegen Ihren Turm jedoch – gleich einem Spieler – nach strategischen Gesichts-punkten, wie eine Schachfigur, über verschiedene Felder des Bodensees, um Begegnungen, vielleicht auch Konfrontationen (mit Tiefen und Untiefen?) zu suchen. Nach welchen Gesichts-punkten haben Sie die Felder ausgewählt? Bauern, Dame und Graf Zeppelin? Was erwarten Sie von den Begegnungen, denen Sie gemeinsam mit Ihrem Turm (schon von weitem) entgegensehen können? Nie zuviel der Muße?

FG Leuchttürme bieten wie Inseln Projektionsflächen für die größten Ängste aber auch größten Wünsche des Menschen. Sie evozieren einerseits Angst vor Isolation, Einsamkeit oder Langeweile, und andererseits Sehnsucht nach Unabhängigkeit, Selbstständigkeit oder Ruhe. Genauso fühlte ich mich auf meiner Irrfahrt hingerissen zwischen der Muße im elfenbeinweißen Gefährt, verwickelt in babylonische Verwirrung und gefangen in der Freiheitsstatue. Gleichzeitig fühlte ich mich geborgen wie in der Arche oder lauernd wie im Trojanischen Pferd. Ich wurde selbst zum Irrturm, und der anthropomorphe Baukörper begann mich zu bewohnen. Er wurde zum skulpturalen Bild, das sich immer wieder neu in die Landschaft einschrieb, um sich gleich wieder von ihr zu lösen. Die Figur wurde Grund – Grund zum Spiel mit der Strategie. Zug um Zug rief sie Auseinandersetzung und Begegnungen unterschiedlichster Art hervor. Zum Beispiel schrieb mir eine sympathische Dame ein Gedicht über den irrenden Turm oder ein Bauer schrieb einen Leserbrief in der Zeitung. Ich zog am einzigen Leuchtturm am Bodensee in Lindau vorüber und Läufer überbrachten die Turmwarnung. Das Leuchtfeuer entfachte Gespräche und Gedanken, die zu Neuorientierung oder zu eigenen Interpretationen inspirierten.

MK Noch ein paar perspektivische Worte zur Prospektivität: Der Turm hat ja auch ein, vermutlich kleines, Zimmer mit Aussicht, das ungewöhnliche Visionen ermöglicht. Was sehen Sie eigentlich von da oben?

FG Wenn ich über die vier Stockwerke in das ganz oben liegende Aussichtszimmer gelangte, sah ich von dort nach draussen. Dieses Draussen ist beruhigend. In seinem Innern ist man ja oft selbst Treibender. Und im Draussen – aus einem Innenraum betrachtet – findet man einerseits sich selbst, erfährt Weitsicht und Übersicht, oder findet Nachsicht und Rücksicht.

MK Die weiße, unbeschriebene Oberfläche des Turms ruft beim Betrachter eine Fülle von theoretischen Assoziationen hervor. Man kann beispielsweise an Käpt’n Ahab denken, der angesichts der irrlichternden, elektrischen Entladungen in der Takelage seines Schiffs diese sogenannte Elmsfeuer als Feuerzeichen interpretiert, die ihn zu Moby Dick, zum weißen Wal geleiten, jenem Element des Wassers also, das sich wegen seiner Ungeheuerlichkeit jeder Beschreibung entzieht; oder man denke an Bruno Latours immutable mobiles, die vorzugsweise verschiedenen Inskriptionstechniken verpflichtet sind. Inwiefern ist Ihr Turm selbst ein flottierendes, unbelegtes Zeichen im Weltmeer der Bedeutungen, oder ein derartiges unveränderliches mobiles Element, das ganz neue fluide, liquide Erkenntnisse verspricht? Oder noch einmal anders, was sehen nicht Sie, sondern die Betrachter im Turm, wenn sie Sie von außen, zu Land oder zu Wasser, beobachten?

FG Die appollinisch hell gestrichene Fläche wird zur beleuchteten und leuchtenden Projektionsfläche oder zur Reibungsfläche, die ich anbiete. Das Flächige oder genauer das Zweidimensionale ist jedoch eine Erfindung, die es in der materiellen Realität nicht gibt. Daher sind es genau genommen vier Flächen, die zusammen einen Körper mit Kopf aufbauen. Wenn man diesen Körper ansieht, blickt er zurück. Was in diesem dialogischen Verhältnis zwischen Betrachter und dem Turm geschieht ist hoffentlich vielfältiger, bewegter oder bewegender als ich es planen könnte. MK Der Turm erinnert ein wenig an eines der sieben Weltwunder der Antike, den Pharos von Alexandria, einen steinernen Leuchtturm von rund 100 Meter Höhe, dessen unterer Bau — gleich dem Irrturm — eine viereckige, pyramidale Konstruktion aufweist. Zufall oder Absicht? Und wenn‘s mit Bedacht gewählt ist: Sind wie beim Pharos noch weitere (Aus-)Baustufen nach oben geplant, vielleicht auch mit einer Skulptur als krönendem Abschluß? Mit anderen Worten, wie sieht die Zukunft Ihres Objekts aus? Kreuzt der Irrturm bald (oder: schon längst) in der Ägäis?

FG Ich war gestern mit dem Leuchtturm auf dem östlichen Teil des Bodensees angelangt, auf dem sogenannten Untersee und überlegte mir, mich rheinabwärts Richtung Basel und Rotter-dam treiben zu lassen. Kurz vor dem Rheinfall hab ich aber wieder abgedreht.

MK Irrtümer gibt es ja viele, im Gegensatz zu Irrgärten sind Irrtürme weniger breit gestreut, dafür aber besitzen Türme mit Irren mitunter eine längere Tradition, man denke nur an Hölderlin im Tübinger Turmzimmer über dem Neckar, den man für die zweite Hälfte seines Lebens – ähnlich wie Fitzcarraldo, der sein Schiff über den Berg ziehen läßt, vielleicht fälschlicherweise – für wahnsinnig hielt. Welches Zeichen wollen Sie mit dem Turm setzen?

FG Der Idiot von Dostojewski, der kleine Prinz von Saint-Exupéry, Don Quichotte von Cervantes, Oblomow von Gontscharow oder zum Beispiel die Figuren von Jim Jarmusch sind alle abnormale Figuren. Doch genau diese Verrückten, Entrückten oder wahnsinnig Scheiternden haben Strahlkraft. Von ihnen kann man viel lernen. Genauso wie in der Psychologie oder in der Medizin die meisten Erkenntnisse für die sogenannt Gesunden durch die (anscheinend) Kranken gewonnen wurden.

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