Antonio Velasco Muñoz, 2006

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geboren 1969 in Sevilla, Spanien; lebt und arbeitet in Bremen


Vita
1987 – 1996
Kunststudium an der Facultad de Bellas Artes, Universidad de Sevilla
1998 – 2008
Lehrauftrag an der Hochschule Bremen
seit 2013
Lehrtätigkeit im Gerhard-Marcks-Haus, Museum für moderne und zeitgenössische Bildhauerei, Bremen
Preise und Stipendien (Auswahl)
2006
Dänemark-Stipendium BBK Bremen, Dänemark
Stipendium ZF Kunststiftung
1996
Stipendium der Universität von Andalusien, La Rábida, Huelva
1994
Dritter Preis Malerei, VII Muestra Andaluza para Jóvenes Artistas Plásticos, Junta de Andalucía, Consejería de Cultura, Málaga
Einzelausstellungen (Auswahl)
2014
…wenn (k)ein Menschenblick sie berührt…, mit Lena Lorenzen, Villa Sponte, Bremen
2010
Heimat des Lichts / La tierra de la luz, Spanisches 
Genaralkonsulat Hannover
2009
Der schönste Tag meines Lebens, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen
2006
Recuerdos Vivos, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2013
vorBILD-nachBILD, Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen
2012
Ganz Privat - Familie, Städtische Galerie Lüdenscheid No se puede comer tanta carne, Galería Casa de la Provincia, Sevilla
2010
Sehnsuchtsorte, Ostfriesisches Landesmuseum Emden
Katalogtext

RECUERDOS VIVOS – LEBENDIGE ERINNERUNG

Regina Michel

Erinnerung ist ein zentraler Parameter menschlicher Existenz. Erinnerung ist notwendig, um ein Bewusstsein für das eigene ,Ich‘ zu entwickeln. Jeder Mensch wird in eine Familie, eine Generation, eine Nation, eine Kultur hineingeboren und teilt Erinnerungen mit diesen verschiedenen Gemeinschaften. Jedes ,Ich‘ ist verknüpft mit einem ,Wir‘, von dem es wichtige Grundlagen der eigenen Identität bezieht. Die privaten Erinnerungen sind eingebettet in ein kulturelles Gedächtnis.

SPURENSICHERUNG

In einer immer komplexer werdenden Welt spielt die Frage nach der kulturellen Identität eine immer größere Rolle. In der Kunst der Gegenwart hat das Phänomen Erinnerung daher einen zentralen Stellenwert: Ende 2000 waren u.a. Arbeiten von Gerhard Richter, Jochen Gerz, Sigrid Sigurdsson, Anne und Patrick Poirier in der Ausstellung ,Das Gedächtnis der Kunst‘ im Historischen Museum und in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt zu sehen. 2006 beleuchtete das Kunstmuseum Wolfsburg die Bedeutung von Erinnerung im Zeitalter digitaler Datenspeicher und beschleunigter Medienkommunikation unter dem Titel ,Spurensuche. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst‘ anhand ausgesuchter Positionen von Christian Boltanski, Douglas Gordon, Paul Graham, Anselm Kiefer, Jörg Immendorff, Luc Tuymans, Annette Messager und Sophie Calle. Im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt war die Ausstellung ,Der Souvenir – Erinnerung in Dingen von der Reliquie bis zum Andenken‘ Erinnerungsstücken gewidmet. Ende 2006 gibt die Ausstellung ,Zeit‘ in der Mathildenhöhe in Darmstadt einen Überblick über die Gedächtnisarbeit im Werk von Christian Boltanski.

Erinnerung in der Kunst der Gegenwart ist mehr als eine Dokumentation historischer Ereignisse, die sinnliche Reaktivierung der Vergangenheit in der Gegenwart steht im Zentrum. Einige Künstler zitieren in ihren Kunstwerken Orte, in denen Erinnerung gespeichert wird: das Archiv, die Bibliothek, das Museum oder das Denkmal. Andere stellen das Sammeln, Archivieren, die Spurensicherung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Häufig zielt die künstlerische Auseinandersetzung  mit Geschichte auf eine kollektiv erfahrene Vergangenheit. Das  Verschmelzen von individuellen Lebensgeschichten und universeller Weltgeschichte – und der Wunsch, diese dem Rezipienten neu ins Gedächtnis zu rufen – bestimmen viele der Kunstwerke.

VERNETZE ZEIT

„Sobald ein bereits gehörtes Geräusch, ein schon vormals geatmeter Duft von neuem wahrgenommen wird, und zwar als ein gleichzeitiges Gegenwärtiges und Vergangenes, ein Wirkliches, das gleichwohl nicht dem Augenblick angehört, ein Ideelles, das deswegen dennoch nicht Abstraktes bleibt, wird auf der Stelle die ständig vorhandene, aber gewöhnlich verborgene Wesenssubstanz aller Dinge frei …“
(Marcel Proust)1

Erinnerung geschieht in der Gegenwart. Ein Geruch, ein Geschmack, ein Ton, ein Bild oder ein altes Kleidungsstück können Auslöser für die Zeitreise sein, lassen vor dem inneren Auge eine längst vergangene Situation, einen längst vergessenen Ort Gestalt annehmen. Gegenstände, symbolisch aufgeladen mit Erinnerung, sind die bevorzugten Ausgangsmaterialien für künstlerische Interventionen:  Kleidungsstücke, Gegenstände des alltäglichen Lebens, Briefe und immer wieder Fotografien. Die enorme suggestive Kraft, die gerade Familienfotos innewohnt, hat der Gedächtnisforscher Daniel L. Schacter auf den Punkt gebracht: „Viele Menschen verstehen unter Erinnerung noch immer eine Reihe von Familienbildern, die in einem inneren Album aufbewahrt werden. Doch inzwischen wissen wir, daß wir keine wertfreien Schnappschüsse früherer Erinnerungen speichern, sondern auch die Bedeutung, die Empfindungen und Gefühle aufbewahren, die uns diese Erlebnisse vermittelt haben.“2 Pressefotos, vor allem aber Fotos aus den eigenen oder aus fremden Familienalben, in denen die Höhe- und Wendepunkte eines menschlichen Lebens im Bild festgehalten sind, kommen zum Einsatz, um Erinnerungen zu aktivieren. Für viele Künstler ist die Aufarbeitung der eigenen Geschichte – insbesondere der eigenen Kindheit – Ausgangspunkt für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Erinnerung. Zu ihnen gehört auch der 1969 in Sevilla geborene Künstler Antonio Velasco Muñoz.

ERINNERN IM MALEN

„Para conjurar la nostalgia, algunos inmigrantes
traen de su tierra algo que les resulta
especialmente querido: un retrato, un mantón, fotos…
O el olivo que la española plantó en el fondo de su casa,
en el cuento ,Don Paulino‘ de Marita Minellono.“3

Das Foto oder die Locke in der Brieftasche, der Babyschuh im Auto – viele Menschen sammeln Erinnerungsstücke, tragen ein Stück Heimat mit sich. Besondere Bedeutung erhalten diese Zeugnisse der eigenen Identität, wenn ein Mensch seine Heimat verlässt. Auch für Antonio Velasco Muñoz erhält die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln, die Vergewisserung der eigenen Identität, eine ganz neue Bedeutung, als er 1998 nach Bremen übersiedelt. Erinnerung ist seither das zentrale Thema im Werk des in Sevilla aufgewachsenen Künstlers. Seine Inspirationsquelle sind die Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Familienalbum. Er verwendet die Familienfotos nicht direkt als Material für seine Installationen, er übersetzt die Fotografien zunächst in Malerei. Bei jedem Pinselstrich erinnert er sich neu, stillt so die Sehnsucht nach der Familie und der andalusischen Heimat – in der er tief verwurzelt ist.

Antonio Velasco Muñoz arbeitet in abgeschlossenen Zyklen: Er malt die eigene Taufe, die Kommunion der Schwester, einen Sonntags-Spaziergang im Park, den Urlaub am Meer, die Mitschüler im ersten Schuljahr. Während des Malens erweckt er die Momentaufnahmen aus der Vergangenheit zu neuem Leben, lässt sie mit schnellem, sicherem Pinselstrich neu entstehen. Die Gemälde sind reduziert, vereinfacht. Gerade die großformatigen Schlüsselarbeiten wirken oft skizzenhaft. Details interessieren den Künstler nicht. Der Gesichtsausdruck der Schwester oder der Mutter, das helle Licht und die tiefen Schatten eines südspanischen Sommertags sind dem Künstler wichtig.

Unzählige, differenzierte Nuancen von Schwarz-, Grau- und Weißtönen verleihen der Malerei enorme Ausdruckskraft. Das satte Schwarz der Kohle scheint das Licht in den tiefen Schatten förmlich zu verschlucken. Warme, graue Schatten akzentuieren das cremefarbene, scheinbar vergilbte Weiß des Kommunionkleids, wecken Assoziationen an gealterte Spitze. Das leuchtende Weiß einer Pastellkreide lässt das Sommerkleid der Mutter in einem der Strandbilder in der gleißenden Sonne leuchten. Die Gemälde fangen das dramatische Licht Andalusiens ein, spiegeln Stimmungen und Gefühle wider.

ZEITSPUREN

Die zentralen Schlüsselbilder eines Zyklus verlangen das Großformat und einen besonderen Malgrund. Lebensgroß tritt die Schwester dem Betrachter in dem Gemälde ,En la puerta del patio‘ entgegen. Mit Acryl und Kohle hat der Künstler ihr Bild auf die leinwandbeschichtete Rückseite einer über zwei Meter hohen, ausrangierten Schullandkarte gemalt. Auch die Arbeiten, die die Familie am Strand zeigen, haben einen ungewöhnlichen Malgrund, sie sind auf die Rückseite von etwas kleineren Wandkarten aus dem Biologieunterricht gemalt. Die ausrangierten Land- und Wandkarten aus Schulbeständen sind vergilbt, verknittert und immer wieder geflickt. Sie sind als Malgrund für die Gedächtnisbilder geradezu ideal. Durch die Knitterfalten des Malgrunds erinnern die großformatigen Gemälde wieder an alte Schwarz-Weiß-Fotografien – jahrelang in der Brieftasche getragen, unzählige Male hervorgeholt, herumgezeigt und immer wieder angeschaut. Die Landkarten – Relikte aus deutschen Schulen sind nicht nur ,Malgrund mit Geschichte‘, sie verbinden die Vergangenheit, die Heimat in Spanien, mit der Gegenwart, der Existenz in Deutschland. Großformatig stellt der Künstler die eigene Kindheit öffentlich zur Diskussion und führt dem Betrachter so typische Höhe- und Wendepunkte einer spanischen Kindheit in den Siebziger Jahren exemplarisch vor Augen. Er leistet so in seiner Arbeit auch einen Beitrag zum interkulturellen Diskurs in einem zusammenwachsenden Europa.

ZEITZEUGEN

„Für mich sind Kleider ganz stark verbunden mit der Photographie – ein Bekleidungsstück ist wie die Photographie ein Objekt der Erinnerung an ein Subjekt. Da ist der Geruch, da sind die Falten, das ist wie eine Hohlform …“
(Christian Boltanski)4

Die Pflege von Erinnerung hat Tradition in der Familie von Antonio Velasco Muñoz. Das Taufkleid wird seit Generationen in der Familie weitergegeben, bezeugt so gleichsam eine Initiation, den feierlichen Eintritt in die Familie. Das Kommunionkleid der Schwester – ebenfalls ein Symbol einer Initiation, der Aufnahme in die Katholische Kirche – wird mit Schleier, Gebetbuch und Handschuhen sorgfältig aufbewahrt. Aber auch ganz alltägliche Kleidungsstücke – den Kinderanzug, die Badehose oder den Schulkittel des kleinen Antonio – bewahrt die Mutter sorgfältig auf.

Die Präsentation der Gemälde spielt im Werk von Antonio Velasco Muñoz eine zentrale Rolle. Er bedient sich aus dem Familienfundus an Erinnungsstücken und konfrontiert die Gemälde in seinen Installationen immer wieder neu mit originalen Kleidungsstücken, die auf den Fotos und Gemälden zu sehen sind. Wie Fotografien sind Kleidungsstücke ein ausgezeichnetes Vehikel, um die Erinnerung an einen Menschen in die Gegenwart zu transportiert. So wirkt das Kommunionkleid in der Installation ,En Sevilla a 21 de Mayo de 1972‘ wie eine Larve, als sei die Schwester gerade aus dem Kleid herausgeschlüpft.

Das Werk von Antonio Velasco Muñoz ist vielschichtig. Er beleuchtet das Phänomen Erinnerung von verschiedenen Seiten, vernetzt Vergangenheit und Gegenwart auf mehreren Ebenen. Die Dimension ,Zeit‘ wird so sinnlich erfahrbar: Trotz der sorgfältigen Konservierung hat die Zeit Spuren hinterlassen, die Kleidungsstücke sind sichtbar gealtert. Gleichzeitig fungieren die Kleidungsstücke als ,stumme Zeitzeugen‘, bezeugen die Erinnerung und dienen so gleichsam zu deren Vergewisserung. Nicht zuletzt konfrontiert Antonio Velasco Muñoz die eigene, reaktivierte Erinnerung und die ,stummen Zeitzeugen‘ mit den Erinnerungen realer Zeitzeugen: Er hat Mutter und Vater, Tanten und Onkel nach ihren Erinnerungen befragt und im Video festgehalten.

„Man sieht nicht, man erkennt wieder.
Als kleine Kinder werden wir mit Bildern aufgeladen,
und dann erkennt man einen Strand wieder
in Bezug auf den ersten Strand, den man gesehen hat.
 … Die tatsächlich interessanten Autobiographien
sind die, die nicht vom Autor sprechen, sondern
von jedem Leser. …“
(Christian Boltanski)4

Die enorme, geschichtsträchtige Präsenz der großformatigen Gemälde und die emotionsgeladene Präsentation wecken beim Betrachter aber auch ganz persönliche Assoziationen, evozieren Bilder der eigenen Kindheit. Die ,Lebendige Erinnerung‘ von Antonio Velasco Muñoz kann so zum Auslöser von Selbstreflexion und Vergewisserung der kulturellen Identität im interkulturellen Diskurs werden.

1 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt am Main, 1976
2 Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit, Hamburg, 1999
3 Marita Minellono, Don Paulino, in: Reunión, Buenos Aires, Corrigidor, 1992
4 Doris von Drathen, Der Clown als schlechter Prediger. Interview mit Christian Boltanski, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig, 1996
Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.