Ignacio Acosta, 2020
Ignacio Acosta erhält 2020 das Präsenzstipendium der ZF Kunststiftung
geboren 1976 in Chile; lebt und arbeitet in London
Der in Chile geborene und in London ansässige Künstler und Forscher Ignacio Acosta beschäftigt sich mit Orten, deren Ökosysteme von kolonialer Intervention und intensiver Ausbeutung gezeichnet sind. Seine Arbeit basiert auf vernetzten Projekten, die sich aus ausgiebiger Feldforschung, investigativer Analyse, audiovisueller Dokumentation und kritischen Texten zu symbolträchtigen Orten und Materialien zusammensetzen. In Opposition zur Rohstoffwirtschaft und ihren Auswirkungen auf wertvolle natürliche Lebensräume generiert Acosta mit Technologien des Sehens sinnstiftende visuelle und räumliche Erzählungen. Seine Interventionen positionieren geologische und technologische Formen sowie menschliche und nicht-menschliche Beziehungen in einer Landschaft. Angesiedelt im Bereich der dringend notwendigen kritischen Positionen in der künstlerischen Auseinandersetzung mit abgewirtschafteten Landschaften, verhandelt Acostas Werk die in unserer Lebenswelt vergrabenen Konflikte auf kreative Art und Weise.
Die letzten zehn Jahre widmete der Künstler der Erschließung oft vernachlässigter, aber global relevanter Orte und Landschaften: Gebiete in Südamerika und Europa unter dem Druck der Rohstoffgewinnung. Seine jüngsten Arbeiten erforschen die Möglichkeiten der Drohnentechnologien als Widerstandsmittel im Kampf für Dekolonialisierung. Durch die künstlerische Aneignung dieser vorrangig aus der militärischen Überwachung bekannten Maschinen, bietet Acosta einen neuen planetarischen Blick auf Ökologie und Widerstand. Strategische Gegenüberstellungen sind ideologisch wie ästhetisch ein Hauptmerkmal seiner visuell komplexen Werke.
Sein künstlerisches Schaffen fußt jedoch auf seiner Forschungspraxis. Im Bestreben, höchst ambivalente Machtdynamiken aufzudecken und bloßzustellen, gleicht Acostas Methodologie mit ihren investigativen und ethischen Praktiken der eines forensischen Ermittlers. Zudem fördert sein vielschichtiger individueller Forschungsprozess größere dynamische Kollaborationen mit Aktivist*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Autor*innen und indigenen Völkern. Bei der Untersuchung und Darstellung der Orte aus seinem Blickwinkel spielt Zusammenarbeit eine Hauptrolle. Verbreitet werden seine Forschungen über Ausstellungen, öffentliche Veranstaltungen und Online-Plattformen. In ungewissen Zeiten bleiben Acostas Präsentationen unbefristet und dienen als Quelle der Vermittlung, des Aktivismus und der visuellen Kultur.
2016 promovierte Acosta an der University of Brighton im Rahmen des Forschungsprojekts Traces of Nitrate, eine vom Arts and Humanities Research Council (AHRC) unterstützte Kollaboration mit der Kunst- und Designhistorikerin Louise Purbrick und dem Fotografen Xavier Ribas. 2018 erschien bei Editorial RM die aus seiner Doktorarbeit Copper Geographies hervorgegangene Publikation. 2017 erhielt er den Research and Development Award sowie den Project Realisation Award von der Hasselblad Foundation / Valand Academy, Schweden, als Teil des Drone Vision Projekts unter der Leitung von Dr. Sarah Tuck. 2019 wurde seine Ausstellung Tales from the Crust im Arts Catalyst vom Arts Council England ausgezeichnet und 2020 erlangte er das Stipendium der ZF Kunststiftung.
Archaeology of Sacrifice
Ellen Lapper und Ignacio Acosta
Mit der Entdeckung einer keltischen Opferstätte auf dem Mormont – einem Kalk- und Mergelsteinbruch im Schweizer Kanton Waadt – veranschaulicht die Zweikanal-Videoinstallation mit Surround-Sound Archaeology of Sacrifice den Wandel des Opferbegriffs von antiken sakralen Ritualen bis hin zur heutigen Bedeutung im extraktiven Kapitalismus.
2006 wurde der Steinbruch mit einer archäologischen Grabung beauftragt. Hierbei wurden Spuren einer keltischen Besiedlung entdeckt. Allem Anschein nach befanden sich die dort ansässigen Kelten im zweiten Jahrhundert v. Chr. in einer Krise, möglicherweise bedingt durch eine germanische Invasion. Im Wunsch nach Beistand in dieser Katastrophe vergruben sie Opfergaben in Form von menschlichen und tierischen Körpern sowie Werkzeuge und Bronzegefäße.
Heute werden Opfer durch die Marktwirtschaft bestimmt – das Wohlergehen von Menschen, Tieren und Umwelt wird dem Wirtschaftswachstum geopfert. Vermehrt entstehen Opferzonen in Gebieten, die sich durch reiche Rohstoffvorkommen auszeichnen und oftmals dem Druck neoliberaler Politik ausgesetzt sind. Mensch und Natur gelten hier als entbehrlich und ersetzbar.
Dieser Verschiebung in der Opferpraxis nachspürend, löst das Video den Opfergedanken von seinem ursprünglichen Bezug zum Sakralen, Göttlichen und den aus Liebe und Solidarität erwachsenen Verbindungen, wie sie die Kelten kannten. Wie alle frommen Opfernden, bevorzugt das gegenwärtige Modell ein Geben ohne Garantie auf Gegenleistung; paradoxerweise ist dieser Austausch für jene, die in enger Verbindung zum Boden stehen, nicht nachvollziehbar. So bleibt die körperliche Bildhaftigkeit schmutziger Hände ohne metaphorische Bedeutung.
Mithilfe der am Mormont ausgegrabenen Objekte erschafft die Archäologie eine Vergangenheit, wenngleich die Auffindung dieser Überreste vermutlich nicht von den Kelten beabsichtigt wurde. In der Archäologie ist die Formulierung vergangener Vorstellungen eine Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität mit fließenden Grenzen; die Rekonstruktion bleibt immer eine Repräsentation. Ausgehend von dieser Grauzone propagiert das Projekt im Augenblick unserer eigenen gegenwärtigen Krise ein erdverbundeneres Verständnis unseres künftigen Zusammenlebens und bietet dabei gedanklichen Raum für eine unbekannte Zukunft.
In der Montanindustrie geht der Trend derzeit zur Kombinierung verschiedener automatisierter Technologien, die von Robotik und künstlicher Intelligenz bis hin zu augmentierter Realität reichen und darüber hinaus. Drohnen gelten als Werkzeuge des Bergbaus, da sie zur Generierung genauer bildbasierter Vermessungen und Analysen für die Erstellung hochauflösender Karten für den Bau extraktiver Infrastrukturen auf dem Boden eingesetzt werden können. Die mithilfe automatisierter Drohnenflüge produzierten interaktiven 3D-Karten und Raummodelle steigern die Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Industriezweigs. Durch die Untergrabung der profitablen Verwendung der Drohnentechnologien veranschaulicht das Video den negativen Fußabdruck der Abbauwirtschaft auf die wertvolle natürliche Umgebung des Mormont und bietet dabei einen präzisen, erweiterten Blick auf das Gebiet.
Im ständigen Wechselspiel zwischen Fakt und Fiktion werden meditative Landschaften sonst unzugänglicher Gebiete Archivmaterial, Drohnenbildern, Nahaufnahmen und computergenerierten 3D-Modellen gegenübergestellt. Archaeology of Sacrifice verdeutlicht die Auswirkungen der Ausbeutung und gibt einen Ausblick in eine hypothetische, posthumane Zukunft, die übersäht ist mit den Resten der Rohstoffwirtschaft. Ist dies das unvermeidliche Opfer?
Gemäß Frederic Jamesons Überlegungen zum Verhältnis zwischen Utopie und Science-Fiction und der Erkenntnis, dass die Stärke letzterer gerade darin liegt, eine reale Zukunft nicht genau imaginieren zu können, spielt Archaeology of Sacrifice auf ähnliche Weise mit dem Unvermögen unserer Vorstellungskraft.
Mal wieder ist der globale Kapitalismus verantwortlich; wir sind in seiner Falle erstarrt, unfähig, nach Alternativen zu suchen. Statt einer eindeutigen Vision bietet das Video verschiedene Möglichkeiten, die „die Erfahrung unserer eigenen Gegenwart verfremden und umstrukturieren“. ¹ Das Imaginäre wird so zu einem Prozess des Werdens, dessen Funktion darin besteht „unsere eigene Gegenwart in eine bestimmte Vergangenheit noch ausstehender Ereignisse zu verwandeln“. ² Wie die Rekonstruktion der Vergangenheit, ist die Imagination der Zukunft stets eine Repräsentation.
Im Bewusstsein, dass sich das Anthropozän auf der Vertuschung seiner rassischen Herkunft gründet und der Klimawandel schöngeredet wird, reflektiert Archaeology of Sacrifice die Labilität unseres Planeten im Angesicht der ungefragten Aneignung durch den Menschen.
Archaeology of Sacrifice entstand in Zusammenarbeit mit der Filmeditorin Lara Garcia Reyne, den Künstler*innen Valle Medina und Benjamin Reynolds (Pa.LaC.E), dem Schriftsteller Carlos Fonseca, dem Sounddesigner und Komponisten Udit Duseja und dem Koloristen Paul Willis. Die Produktion beinhaltet Archivmaterial aus der Dokumentation Le crépuscule des Celtes (2007) von Stéphane Goël (Climage). Sie resultierte aus dem Stipendium 2020 der ZF Kunststiftung, Friedrichshafen, Deutschland, und wurde im Rahmen des Principal Residency Programms, La Becque Résidence d’artistes, La-Tour-de-Peilz, in Kollaboration mit dem Musée cantonal d’archéologie et d’histoire Lausanne in der Schweiz gefilmt. Vom 18.9. bis zum 6.12.2020 wurde sie zum ersten Mal von der ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen präsentiert.
1 Frederic Jameson: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. Verso, London, 2005, S. 738.
2 ebd., S. 738–741.
The Beauty of Forensics. Ignacio Acostas Archaeology of Sacrifice
Ina Neddermeyer
“The rocks are bones.
In them are the traces
of a very modern crime.”
Mit diesen Worten beschreibt die Stimme aus dem Off den Schauplatz des Steinbruchs rund um den Hügel Mormont ¹, der im Zentrum von Ignacio Acostas Videoinstallation Archaeology of Sacrifice (2020) steht. Bildliche Metapher dafür sind die farbig markierten Steine, die wie bei einem Tatort zugleich Spur und Zeuge einer sehr wechselvollen Geschichte sind. Mit größter Präzision und Systematik seziert Acosta die Geschichte dieses Ortes, Schicht für Schicht wird abgetragen, bis deren Komplexität und Ambivalenzen vollständig freigelegt sind, ohne komplett aufgelöst zu werden. Ausgangspunkt dafür sind intensive wissenschaftliche Recherchen, mit denen er
das höchst vielschichtige Beziehungsgeflecht ökologischer, archäologischer und politischer Dimensionen reflektiert, die den Ort auszeichnen. Er ist dabei zugleich Wissenschaftler und Künstler, der sich forensische Praktiken aneignet.
Ökologische Forensik
Der Mormont ist geologisch ein besonderer Ort. Das gelb-beige Kalkgestein stammt aus der Kreidezeit und ist damit rund 100 Millionen Jahre alt. Für die Paläontologie ist dieses Gebiet von großem Interesse, da es verhältnismäßig viele Fossilien enthält. Auch in ökologischer Hinsicht ist der Mormont bedeutsam: Aufgrund des kalkhaltigen Bodens hat sich auf dem bewaldeten Hügel eine einzigartige Flora und Fauna entwickelt. Das Gebiet zählt daher in der Schweiz zu den Landschaften und Naturdenkmälern von nationaler Bedeutung.
Zugleich ist Kalk als Rohstoff besonders gefragt, da er als wesent-licher Bestandteil für die Zementproduktion benötigt wird. So baut die Firma Holcim AG bis voraussichtlich 2029 Kalk ab. Ihr Ziel ist eine stetige Erweiterung des Abbaugebietes, da nach ihrer Aussage eine lokale Zementproduktion sehr nachhaltig ist.²
Acosta macht diese durch den Abbau entstandenen massiven Eingriffe in die Natur durch sehr eindringliche Bilder sichtbar: Der Steinbruch spaltet den Hügel in zwei Teile und so klafft dazwischen eine riesige Leerstelle. Denn natürlich ist die Kalkgewinnung ein fundamentaler Eingriff in das ökologische Gleichgewicht, das sich neu ausrichten muss. Präzise hält Acosta die Verwundungen fest, die Sprengungen, die Löcher, die Abtragungen, Grabungen und Wege der Bagger, die sich immer tiefer in den Berg reinfressen.
Archäologische Forensik
Während der Bergbauarbeiten konnten jedoch 2006 außergewöhnliche archäologische Funde gemacht werden. Aus über 250 Gruben, die bis zu fünf Meter tief waren, wurden tausende Objekte aus der Eisenzeit geborgen. Darunter waren Keramik- und Bronzegefäße, Eisenwerkzeuge, Schmuck, Mahlsteine, Pflanzenreste und Münzen. Darüber hinaus wurden vollständige Tierskelette von Pferden, Schädeldepots, Skelettteile bis hin zu kompletten menschlichen Skeletten in extremen Positionen freigelegt. Da keine Häuser und Straßen gefunden wurden, kann es sich nicht um eine Siedlung handeln. Vielmehr war der Mormont zwischen 120 und 80 v. Chr. eine Kultstätte bzw. ein Heiligtum des keltischen Volksstamms der Helvetier, die in der heutigen Schweiz und Südwestdeutschland siedelten. Die gemachten Funde verweisen auf kultische Rituale, die an diesem Ort durchgeführt wurden. Aufgrund ihrer Form und Größe, die sich über mehrere Hektar erstreckt, dem Erhaltungszustand und ihrer Reichhaltigkeit ist die Kultstätte einmalig in Europa. Das Bild über die Religion der Kelten konnte aufgrund der zu Tage geförderten Spuren korrigiert werden. Es handelt sich um eine höchst ausdifferenzierte und komplexe Form der Ritualausübung.³
Dass die Archäologie bei dieser Rekonstruktion historischer Ereignisse nicht ohne Spekulationen auskommt, macht Acosta in seinem Video deutlich. Alle Ausgrabungen sind immer nur einzelne Puzzleteile, die zusammengesetzt werden müssen. Die fehlenden Elemente bleiben Leerstellen und bieten Raum für verschiedene Narrative. So wurde für die Ausgrabungen am Mormont ein Zeichner engagiert, der mithilfe fiktiver Überlegungen eine Art „Phantombild des Kultorts“ ⁴ erstellte, so wie er vor 2000 Jahren ausgesehen haben kann. “It’s about imagining. It’s about imagining other places”, erzählt die Stimme aus dem Off. Stellvertretend für dieses fiktive Moment stehen die imaginierten Mineralien in dem Video, die mithilfe von 3D-Renderings zum Leben erweckt werden. Es scheint fast, dass sie dadurch ein neues Leben erhalten haben, da sie aufgrund der bildlichen Präsenz und Größe selbst wie eine Art Steinbruch erscheinen.
Die Funde verweisen aber auch auf die Ambivalenz der hier vor-genommenen Grabungen. Einerseits macht der Rohstoffabbau überhaupt erst die Ausgrabungsstätte sichtbar. Denn zahlreiche archäologische Funde werden vor allem durch Bau- und Abbauprojekte entdeckt und erschlossen. Zugleich werden so aber auch die Widersprüche archäologischer Ausgrabungen sichtbar. Ganz im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Intention, dass die Kultstätte im Verborgenen bleiben sollte, werden die Objekte ausgegraben, gereinigt, inventarisiert und ihrem ursprünglichen Kontext enthoben in einem Museum aufbewahrt. Ursprünglich waren die Opfergaben dazu gedacht die Erde zu nähren und damit die Erdgötter milde zu stimmen.
Die forensische Analyse bringt hier das gewaltvolle Eindringen auf mehreren Ebenen zum Ausdruck: Die Ausbeutung der Natur durch den Kalkabbau, aber auch durch die Auflösung der keltischen Kultstätte durch die archäologischen Ausgrabungen und Überführung in ein Museum. Es sind gerade diese eindrücklichen bild-lichen Gegenüberstellungen: Der gewaltvolle Einsatz des Baggers und das behutsame, feingliedrige Freilegen der kultischen Stätte, die zunächst als Gegensatz erscheinen aber in der Endgültigkeit ihrer Entnahme sich einander sehr ähnlich sind.
Ästhetische Forensik
Acostas künstlerische Strategie der Gegenüberstellung findet auch formal ihre Entsprechung. Er arbeitet mit Zwei-Kanal-Installationen, durch die er Verbindungen ziehen, Gegensätze und Kontraste darstellen und Assoziationen aufzeigen kann. Vielfältige Möglichkeiten von Ähnlichkeit und Differenz, Nähe und Ferne können so visuell artikuliert werden.
Bewusst wählt Acosta dabei das unterschiedliche Videomaterial für die Installation aus: Archivmaterial wird mit eigenen Aufnahmen, u. a. von einer Drohne, und mit 3D-Renderings kombiniert, wodurch sich eine ganz eigene Erzählstruktur ergibt. Verstärkt durch langsame Kamerafahrten entschleunigt sich das Erzähltempo: Lange Kameraeinstellungen nehmen die Natur in ihren einzelnen Bestandteilen genauestens in den Blick. Die Natur wird so zu einem ganz eigenen Protagonisten.
Zentrales Element des Videos ist dabei die enge Verschränkung realer und fiktiver Elemente: Dies passiert zum einen durch die Gegenüberstellung realer und fiktiver Mineralien. Ebenso verstärken auch die bildlichen und sprachlichen Übersetzungsprozesse die verschiedenen Narrationsebenen. So ist der ursprüngliche Text von Carlos Fonseca auf Spanisch, die Off-Stimme spricht ein schweizerisches Französisch. Die Untertitelung wiederum ist auf Englisch und Deutsch. Auch der bildliche Übersetzungsprozess, die Mineralien stammen aus der historischen Publikation Minéraux ⁵ und wurden in 3D-Renderings übersetzt, macht die wechselseitige Durchdringung von Fiktion und Realität deutlich.
Diese Verbindung von Fiktion und Dokumentation wird zusätzlich durch das Voice-Over verstärkt. Eine weibliche Stimme spricht und erzählt. Unklar bleibt jedoch, ob sie in der Gegenwart oder Zukunft zu verorten ist und welche Rolle sie einnimmt: Ist sie personifiziert als Mutter Erde oder nur eine fiktive Stellvertreterin? Acosta verbindet so die verschiedenen Zeitebenen – den Kult der Vergangenheit mit dem Rohstoffwahn der Gegenwart und zukünftigen archäologischen Objekten. So ist eine Art 3D-Rendering des Baggers als Archäologie der Zukunft zu verstehen: “Future fossils, an archaic portrait of failed utopias.”
Die Bilder sind eingebettet in eine immersive Soundcollage, die den Raum füllt: die Klänge der Natur, des Windes, die Sprengungen, die Geräusche, die durch die Werkzeuge hervorgerufen werden. Auch auf einer klanglichen Ebene werden so die Eingriffe in die Natur erfahrbar gemacht, die den ganzen Körper erfassen.
Politische Forensik
Acostas Herangehensweise ist dabei immer eine politische Forensik. Ganz im Sinne der lateinischen Bedeutung des Begriffes Forensik, das übersetzt werden kann mit „zum Forum oder Marktplatz gehörend“, da im antiken Rom Gerichtsverfahren, Untersuchungen, Urteilsverkündungen und der Strafvollzug öffentlich und meist auf dem Marktplatz, d. h. dem Forum, durchgeführt wurden. Ein wichtiger Aspekt seiner künstlerischen Praxis ist die enge
Zusammenarbeit mit Künstler*innen, Aktivist*innen, Schriftsteller*innen, Übersetzer*innen, Wissenschaftler*innen und indigenen Völkern. So entstand Archaeology of Sacrifice in Kollaboration mit verschiedenen Partnern.
So wie der Mormont für die Kelten eine Kultstätte war, so werden jetzt die Mineralien und der Kalk selbst zu Fetisch-Objekten. Nicht nur im Video, sondern auch ganz metaphorisch drehen sie sich um ihre eigene Achse. Sie sind die Objekte eines neuen Kultes: Rohstoffe, die für weitere Eingriffe in die Natur und extensive Bauprojekte stehen.
Acosta geht es immer darum die höchst ambivalenten Machtdynamiken herauszustellen und in die Öffentlichkeit zu bringen. Dafür eignet er sich forensische Praktiken an, die sich auf verschiedenen Ebenen dem Ort annähern und Verbindungen herausstellen.
Die Konfliktlinien ziehen sich dabei durch den gesamten Mormont und bringen das ursprüngliche Gefüge durcheinander. So waren die kommenden Etappen des Steinbruchausbaus bereits in den 1990er Jahren bekannt, allerdings wurde erst 2006 mit den archäologischen Grabungen begonnen. Dadurch konnten nur noch Notgrabungen vorgenommen werden, die die Fundstelle vermessen haben. Eine ausführliche Untersuchung vor Ort konnte aber aufgrund des Zeitdrucks nicht realisiert werden. Ein Problem, dass vielfach kritisiert wurde. Denn im Idealfall wären die Objekte unverändert am Fundort geblieben und in ihrer Umgebung untersucht worden. Um die Grabungen aber vollständig durchzuführen, wären Jahre notwendig gewesen. Ein Baustopp für diesen langen Zeitraum wäre jedoch mit dem Verlust von über 100 Arbeitsplätzen in der Region einhergegangen. Auch von der gesetzlich verankerten Möglichkeit der Eidgenossenschaft bei archäologischen Funden von nationaler Bedeutung zu intervenieren, wurde kein Gebrauch gemacht. Zudem wurden die Notgrabungen aufgrund fehlender öffentlicher Gelder durch Holcim bezahlt.⁶
Acosta legt die vielfältigen Elemente der Beweissuche und die Beweisstücke selbst offen, bettet sie in ihren Kontext ein. Er ist dabei weder Aktivist noch Staatsanwalt, denn er fasst kein abschließendes Urteil. Formuliert wird hier die Frage, wer überhaupt Eigentümer des Landes sein kann. Ist es die Vergangenheit, die den Ort kultisch auflädt, die Gegenwart, die den Kalk zu einem neuen Fetischobjekt erhebt oder die Zukunft, d. h. inwiefern sind kommende menschliche und nichtmenschliche Lebewesen die eigentlichen Eigentümer, für die die Natur bewahrt werden muss? Als forensisch arbeitender Künstler reflektiert Acosta über, durch und mit Bildern die gesellschaftspolitischen Prozesse, die die Geschichte des Ortes auszeichnen.