Ingrid Becker, 2002

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geboren 1943 in Neumünster, Westfalen; gestorben 2004 in Ense-Waltringen


Vita
1963 – 1967
Studium an der Hochschule für Bildende Künste (HfBK / UdK), Berlin
Preise und Stipendien (Auswahl)
2002
Stipendium ZF Kunststiftung
1999
Aufenthalt Künstlerhaus Cuxhaven
1992 – 1993
Stipendium Atelierhaus Worpswede
1991
Stipendium Künstlerhaus Selk
Einzelausstellungen (Auswahl)
2003
Bildräume – Raumbilder, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
2000
Schloss Cuxhaven
1999
Städtische Galerie Dortmund, Torhaus Rombergpark
1998
Technik-Museum Soest
1996
Kunsthalle Barmen, BKG-Studio, Wuppertal
1993
Altes Rathaus, Städtische Galerie Hattingen
1991
Künstlerhaus Hooksiel
1988
Sauerland-Museum Arnsberg
Katalogtext

Kühl und sachlich verdichtete Wirklichkeit

Regina Michel

„Kunst ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit.“
(Martin Heidegger)

Ingrid Becker verweigert sich Trends und Moden. Sie ist ihrem ganz persönlichen Stil seit Jahrzehnten treu geblieben. Ihre Motive findet sie in ihrer direkten, alltäglichen Umgebung. Vermeintlich banale, allzu vertraute Motive, die der Passant oft nur mit einem flüchtigen Blick streift, rücken in den Arbeiten von Ingrid Becker in den Mittelpunkt. Der scheinbar zufällige Blick in Badezimmer oder Küche ist für die Malerin genauso bildwürdig wie Fabrikhallen, Silos, ein Fähranleger, Kräne im Hafen, ein Stapel Röhren, ein Hydrant oder Schattenspiele auf dem Asphalt. „Ich habe immer gegenständlich gearbeitet, habe schon immer – mal mehr, mal weniger realistisch – meine unmittelbare Umwelt dargestellt“, bringt die Künstlerin ihre Arbeit auf den Punkt. Zurückhaltend, sachlich und kühl beschreibt sie ihre Umgebung. Dabei arbeitet die Künstlerin keineswegs fotorealistisch, wie es der erste Blick auf ihre Arbeiten vielleicht vermuten ließe. Ingrid Becker hält sich eng an die äußere Erscheinungswirklichkeit, bildet diese jedoch nicht einfach ab. Sie selektiert, interpretiert und erschafft Realität so immer wieder neu.

Das komponierte Abbild der Welt

Ingrid Becker überprüft alle Dinge, die ihr begegnen, auf ihre Gestalt-Qualität, ihre Bildwürdigkeit auch in Beziehung zum Ganzen. Das Spiel von Licht und Schatten, der perfekte Rhythmus, die interessante Linienführung, die Reihung erregen ihre Aufmerksamkeit. Bereits während sie ihre Umwelt wahrnimmt, verdichtet sich das Gesehene vor dem inneren Auge der Künstlerin zu einem neuen, streng komponierten Abbild der Welt. Das Spiel mit den bildnerischen Mitteln beginnt im Moment der Wahrnehmung. Als Gedankenstütze für ihre Arbeiten dienen Ingrid Becker Fotographien. Bereits beim Blick durch den Sucher fallen erste kompositorische Entscheidungen für Hoch- oder Querformat. Die Fotovorlagen werden jedoch nicht eins zu eins umgesetzt, die Fotographien aktivieren in erster Linien das Bild, das vor dem inneren Auge der Künstlerin entstanden ist.

Der scheinbar zufällige Ausschnitt von Wirklichkeit in den Arbeiten von Ingrid Becker ist wohl überlegt und komponiert. Die Künstlerin überläßt nichts dem Zufall. Immer wieder verändert sie die Wirklichkeit im Sinne der Gesamtkomposition. Sie merzt alles Überflüssige und Störende aus. Sie verändert behutsam Distanzen und Proportionen, vertieft Detailschärfe und Modellierung, betont die vertikale und horizontale Bildgliederung zu Gunsten einer strengen Bildtektonik. Die zurückhaltenden Farbnuancen sind genau aufeinander abgestimmt. Wenn notwendig, fügt die Künstlerin aber auch Farbakzente hinzu: hier ein rotes Grafitti, da eine rot-weiße Kette, dort eine gelbe Warntafel. Anstelle der real vorhandenen Bäume oder Berge im Hintergrund tritt dem Betrachter ein flächiger, unnatürlich blauer, wolkenloser Himmel entgegen. „Ich überprüfe die Fotos auf ihre Malwürdigkeit. In meiner Vorstellung ist – mit dem Foto als ausschlaggebendem Impuls – das zu malende Bild bereits mit ganz charakteristischen Merkmalen versehen, die es ‚besonders‘ machen sollen. Eine visionäre Gestaltungsabsicht, der sich das Ausgangsfoto unterordnen muß, ist bereits vorhanden. Da wird dann etwas weggelassen, verschoben, vergrößert oder verkleinert, farblich übersteigert oder gedämpft, Muster erfunden, die Lichtführung verändert, bei Bedarf ein zweites oder ein drittes Foto mitverarbeitet: alles zu Gunsten der ‚Gestaltungsvorstellung‘.“

„Für den denkenden Geist treten nun Bilder
an die Stelle der direkten Wahrnehmungen;
… Daher denkt der Geist nie,
ohne sich ein inneres Bild zu machen.“
(Aristoteles)

Faszination Technik

In Friedrichshafen hat sich Ingrid Becker ganz dem Sujet ‚Industrielandschaft‘ gewidmet. Die Künstlerin ist von Technik als visuellem Phänomen fasziniert. Es geht Ingrid Becker weniger um eine kritische Auseinandersetzung mit Technik. Die formale Strenge, die Klarheit, die seriellen Strukturen von technischen Anlagen sind es, die den besonderen Reiz für sie ausmachen: „Am auffälligsten ist für mich in formaler Hinsicht die vorherrschende Rhythmisierung, die durch die Aneinanderreihung gleicher Elemente entsteht, ob es viele kleine Fenster auf einer Wandfläche sind, oder Streben und Gestänge. Eine weitere bildnerisch bedeutsame Dimension der Industrielandschaft ist das Nebeneinander strenger Konstruktion und vegetativer Strukturen, die einer eher zufälligen, natürlichen Ordnung unterstehen.“

Ingrid Becker nimmt ihre Umgebung ganz mit den Augen der Künstlerin wahr. Sie sieht nicht primär den Gegenstand, die Industrieanlage, sie nimmt die strenge Ordnung, Rhythmisierung und Reihung wahr und nutzt diese in ihren Arbeiten zur formalen Gliederung. Streben, Gestänge und Kabel unterstreichen die Tiefenwirkung. Gleichzeitig sind die ordnenden Bildstrukturen, die ihr die Industrielandschaften an die Hand geben, ein willkommenes Mittel, um das Auge des Betrachters zu lenken, ja, in die gewünschte Richtung zu dirigieren. „Dieser innere Zwang, ordnend eingreifen zu müssen, ist natürlich eine typische Stilleben-Maler-Haltung. Er rührt aber auch daher, daß mein Unverständnis Technik gegenüber einhergeht mit einer rätselhaften Faszination, einem ‚Sich-Ausgeliefert-Fühlen‘ einerseits und einem Vertrautsein mit den optischen Erscheinungsformen technischer Gebilde andererseits. Sie sind ein Stück Alltag. Ihr Anblick ist nichts Ungewöhnliches, höchstens ihre Rolle als ‚Motiv‘ für ein gemaltes Bild.“

Kühle Sachlichkeit

Die Industrielandschaften im Werk Ingrid Beckers sind kühl und sachlich beschrieben. Distanziert, ohne Pathos, bannt sie das Gesehene, ihre unmittelbare Umgebung, auf die Leinwand. Der gegenstandsbetonte, sachliche, fast schon unterkühlte Malduktus und die zeichnerische Präzision erinnern an die Gestaltungsmerkmale der Neuen Sachlichkeit.

Bei aller Gegenständlichkeit haben die Arbeiten dabei einen hohen Grad an Abstraktion: Linien, Farben, geometrische Formen, Licht und Schatten sind mehr als vereinfachte Zeichen zur bildhaften Wiedergabe der wahrgenommenen Wirklichkeit. Die hervorgehobenen, stark akzentuierten Schatten werden in den Arbeiten Ingrid Beckers zu abstrakten Bildflächen, sie modellieren den Gegenstand nicht, sie stehen ihm als eigenständige Fläche gegenüber. Diese abstrahierende Formalisierung, die Verdichtung und Typisierung, verleiht Röhren und Kabelsträngen, Kränen, Schornsteinen und Silos in den Arbeiten von Ingrid Becker eine ganz eigene Ästhetik. Eine Ästhetik, die bei aller Faszination, die vom gekonnten Spiel mit Licht und Schatten sowie der formalen Strenge ausgeht, immer auch eine seltsame Kälte ausstrahlt, immer auch ein unterschwelliges Unbehagen transportiert.

Der abwesende Mensch

Die Bilder von Ingrid Becker sind unaufdringlich und eindringlich zugleich. Sie haben bei aller Subtilität eine große Ausdruckskraft. Obwohl die Künstlerin jede vordergründige Kritik vermeidet, teilt sich dem Betrachter ihre ambivalente Haltung Technik gegenüber mit. Die Industrielandschaften von Ingrid Becker sind menschenleer. Die technischen Anlagen sind der einzige Hinweis auf die Existenz ihres Schöpfers – des Menschen. Die banal-vertraute Welt der Fabriken tritt dem Betrachter in den Industrieland­schaften von Ingrid Becker fremd und rätselhaft, gleichzeitig faszinierend und kalt, ja seelenlos entgegen. So fordern die Bilder von Ingrid Becker – bei aller Zurückhaltung und kühlen Sachlichkeit – den Rezipienten immer auch zur Reflexion über seine ganz alltägliche Umwelt und letztlich die eigene Existenz auf.

Die Arbeiten von Ingrid Becker machen nachdenklich, sie transportieren subtil eine Warnung. Oder wie Siegfried Gnichwitz es 1992 im Katalog zur Ausstellung von Ingrid Becker im Münsterland-Museum Burg Vischering in Lüdinghausen formulierte: „Auch in dieser Welt der Menschen fehlt der Mensch; und so liegt über diesen Szenerien ein Hauch von Fremdheit und Seelenlosigkeit, der sich dem Betrachter, ohne daß er sich dagegen wehren könnte, mitteilt.“

Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.