Jörg Mandernach, 2001

Seitenverhältnis
Seitenverhältnis
Seitenverhältnis

geboren 1963 in Saarbrücken; lebt und arbeitet in Ludwigsburg


Vita
1986 – 1991
Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
seit 1995
Mitglied der Künstlergruppe Die Weissenhofer, heute mit Matthias Beckmann und Uwe Schäfer
seit 1999
Dozent an der Kolping Kunstschule Stuttgart
2005 – 2007
Lehraufträge am Zeicheninstitut der Universität Tübingen
2012  /  2013
Lehrauftrag an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken
Preise und Stipendien (Auswahl)
2013
Hannes Burgdorf-Preis für zeitgenössische bildende Kunst
2004
Förderpreis des Künstlerbundes Baden-Württemberg
2001
Stipendium ZF Kunststiftung
1997
Graduiertenstipendium des Landes Baden-Württemberg
1995
Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg
Einzelausstellungen (Auswahl)
2015
Galerie Rigassi, Bern
Galerie Rotgher-Winter, Wiesbaden
2014
mutabor, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 
Ausstellung zum Hannes Burgdorf-Preis, Galerieverein Leonberg
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2015
Passion, Künstlerhaus Bethanien, Berlin
2013
Joburg Fringe, kuratiert von Almut Determyer, Johannesburg, Südafrika
2012
Expandierende Zeichnung, Kunstverein Wilhelmshöhe Ettlingen
Katalogtext

Hüllen und Speicher

Regina Michel

„Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen –
die Leere dazwischen macht das Gefäß.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes –
das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.“
(Laotse)

Das Gefäß ist ein Symbol für die menschliche Existenz. Es ist Vorratsbehälter und Speicher, lebensnotwendig und lebenserhaltend. Das Gefäß schützt seinen Inhalt, es verbirgt ihn aber auch vor neugierigen Blicken. So haben Gefäße immer etwas Geheimnisvolles und Vieldeutiges. In der Antike ist die Amphore – ein Archetyp des Gefäßes – nicht nur Vorrats- und Transportbehälter für kostbare Güter wie Öl und Wein. In Attika und auf den griechischen Inseln werden im 8. Jahrhundert v. Chr. riesige Amphoren als Grabmäler aufgestellt. Sie sind Orte des Mysteriums, der Transformation zwischen Diesseits und Jenseits.

,Hüllen und Speicher‘ – Gefäße im weitesten Sinn – sind auch das zentrale Thema in der Arbeit des Stuttgarter Künstlers Jörg Mandernach. Amphore und Boot, aber auch Kleidungsstücke versteht Mandernach als Hüllen und Speicher. Sie alle markieren eine Grenze zwischen Innen- und Außenwelt. Immer wieder variiert Mandernach das Thema in den verschiedenen Werkbereichen seines Œuvres und spielt dabei bewußt mit dem Paradox: In den monumentalen, architekturbezogenen Wandarbeiten treten Amphore und Boot dem Betrachter als zarte, filigrane Wandzeichnung entgegen. Obwohl monumental und drei­dimensional wirken sie wie ,Ideenskizzen‘, flüchtig und leicht. Diese Skizzen­haftigkeit widerspricht ihrer Monumentalität, unterstreicht gleichzeitig jedoch den temporären Charakter der Wandinstallationen, deren Lebensdauer auf die Dauer der Ausstellung begrenzt ist. In den farbintensiven Enkaustikbildern hingegen werden Amphore, Boot und Hemd zu gemalten Objekten, die den Betrachter mit ihrer enormen Präsenz, ihrer fast schon skulpturalen Körperlichkeit in den Bann ziehen.

Gemalte Objekte

Ein blaues Boot. Ein gelbes Hemd. Immer wieder Amphoren – in kräftigem Rot, leuchtendem Blau und goldenem Grün. Während des Stipendiums der ZF-Kulturstiftung hat sich Jörg Mandernach wieder ganz der Malerei gewidmet. Die Materialsprache der im Turmatelier entstandenen Arbeiten ist dabei eindringlicher, zur unverwechselbaren Signatur geworden. Dies wird besonders deutlich in den großen, in Enkaustik gemalten Bildern. Bei dieser Maltechnik werden Pigmente in heißem, flüssigem Wachs gebunden. Der Farbauftrag hat einen charakteristischen seidig matten Schimmer, die Oberfläche läßt sich stark strukturieren. In den jüngsten Arbeiten reizt Mandernach die Möglichkeiten dieser alten Maltechnik – die bereits Ägyptern, Griechen und Römer bekannt war – immer weiter aus. Der Gestus hat an Ausdruck gewonnen. Die Oberfläche wirkt mehr modelliert als gemalt, erinnert stärker an eine Farblandschaft denn an eine Farbfläche. Besonders deutlich wird die Tektonik des Farbauftrags aus der Nähe. Farbschichten schieben sich ineinander, überlagern sich. Unter einem zarten Pastellton schimmert ein intensives Rot. In den Furchen der Malbewegung bleiben tiefere Schichten stehen. Ein Grün und Gelb blitzen auf. Diese starke Materialität des Farbauftrags, verbunden mit einer intensiven, leuchtenden Farbigkeit, verleiht den gemalten Objekten ihre unglaubliche Präsenz. Auf geheimnisvolle Art und Weise scheinen sich Amphore, Boot und Hemd im Raum zu materialisieren.

Spiel mit dem Material

Auch bei der Wahl der Pigmente wird die Lust am sinnlichen Material und am Experiment deutlich. Neben traditionellen Pigmenten verwendet Mandernach Kohle, Grünspan und Jod. Ein tiefschwarzer linsenförmiger Schatten aus aufgetürmter, zerstoßener Kohle saugt das Licht geradezu auf und bringt die Rottöne einer Amphore so noch stärker zum Leuchten. Gleichzeitig scheinen die Figuren, die Amphore und Boot wie Attribute begleiten, zu schweben. Sie sind in Aquarell auf einen Gipsgrund gemalt. Das verleiht ihnen eine zartere, dennoch intensive Farbigkeit – und die ungeheure Leichtigkeit.

Das Spiel mit Form und Farbe sowie mit der Vieldeutigkeit des Dargestellten bestimmt auch die kleinformatigen Tafelbilder. Wieder greift Mandernach das Thema ,Hüllen und Speicher‘ auf. Diesmal in Form von Kleidungsstücken: ein Hemdkragen mit Stacheln, eine Jacke durchlöchert, zur leeren Hülle reduziert. Wie Amphore und Boot sind auch sie ,Hüllen und Speicher‘, die eine Vielzahl widersprüchlichster Interpretationen zulassen. Kleidungsstücke schützen den Körper vor Wind und Wetter und verhüllen ihn gleichzeitig. Sie können zum Korsett werden, das den Menschen einengt, aber auch Zugehörigkeit symbolisieren – ja, zum Stellvertreter für den Menschen werden. Wie in den großen Enkaustikarbeiten spielt Mandernach auch in den kleinen Arbeiten mit dem Material: Die Kleidungsstücke sind in Mischtechnik – mit Acryl, Schellack, Farbstift, Blattgold, aber auch mit Atelierkehricht – gemalt.

Das Spiel mit der Stofflichkeit des Materials zieht sich durch alle Werkbereiche und läßt an die chemischen und magischen Experimete der Alchimisten des Mittelalters denken. Immer sind die additiv gewählten, experimentellen Stoffe mit Bedeutungen aufgeladen. Wie bei den Figu­ren und Zeichen schwingt im gewählten Material eine inhaltliche Konnotation mit, die sich dem Bild mitteilt.

„…groß ist nur was man nicht erkennen kann
und größer noch, was man nicht begreift.“
(Element of Crime, Romantik)

Der Betrachter ist im Bild

Im Wiederholen der Urbilder, der Archetypen, lenkt Mandernach den Blick des Rezipienten auf das Besondere, das Unerklärliche im Bild. Doch die Bedeutungen und Deutungen der Zeichen und Symbole oszillieren, scheinen einer fortwährenden Metamorphose unterworfen. Immer wieder neue, überraschende Interpretationen scheinen möglich – nur um im nächsten Moment wieder verworfen zu werden. Die Werke von Jörg Mandernach erscheinen wie traumhafte Bildvisionen des Unbekannten. Sie sind Poesie, Gedichte aus Farbe und Form. Eine Poesie, wie sie Gotthold Ephraim Lessing beschreibt: „Die Poesie zeichnet uns die Körper nur von einer Seite, nur in einer Stellung, nur nach einer Eigenschaft, und läßt alles übrige derselben unbestimmt.“1

Der Künstler verweigert jede, selbst die kleinste Hilfestellung bei der Interpretation seiner Werke. Er lehnt jede Selbstinterpretation ab. Er will der Phantasie des Betrachters keine Zügel anlegen. Im Gegenteil. Seine Arbeiten sollen Projektionsflächen für die unterschiedlichsten Assoziationen sein: „Meine Bilder sind Denkanstöße, kein Manifest. Der Betrachter muß das Bild in seiner Phantasie vollenden!” Das ist keine neue Idee. Bereits Lessing erhebt in seiner berühmten Definition des fruchtbaren Augenblicks die Forderung, daß Platz sein müsse für die ergänzende Aktivität des Betrachters: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir dazudenken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“2 Oder wie Denis Diderot es ausdrückt: „Wenn man malt, muß man alles malen? Habt Erbarmen und laßt eine Lücke, die meine Phantasie ausfüllen kann.”3

1 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. In: Sämtliche Schriften, hrsg. v. Karl Lachmann u. Franz Muncker, Stuttgart 1893, Bd. 14, S. 355.
2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. In: Sämtliche Schriften, hrsg. v. Karl Lachmann u. Franz Muncker, Stuttgart 1893, Bd. 9, S. 19.
3 Denis Diderot: Salon von 1763. In: Ästhetische Schriften, übers. v. F. Bassege u. T. Lücke, Frankfurt/M. 1968. Bd. 1, S 440.
Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.