Petra Kaltenmorgen, 2003
geboren 1964 in Hirschfeld, Hunsrück; gestorben 2019
Poesie der Stille
Regina Michel
„Ein ,Bild‘ ist mehr als
ein Produkt von Wahrnehmung. …
Wir leben mit Bildern
und verstehen die Welt in Bildern.“
(Hans Belting)1
Die Fotografie – die Aufnahme einer zeitbeschränkten Realität, das Einfrieren einer visuell wahrnehmbaren Wirklichkeit – hat das Erleben und die Erkenntnis von Welt grundlegend verändert. Mehr als jede andere visuelle Sprache hat die Fotografie das kollektive Gedächtnis unserer Zeit geprägt. Viele historische Momente des 20. Jahrhunderts erinnern wir in Form von Fotografien. Das Foto ist allgegenwärtig in Technik und Arbeit, in Alltag und Freizeit, in Wissenschaft und Kunst. Die Vervielfältigung und Verbreitung fotografischer Bilder hat eine virtuelle Realität geschaffen, die Teil der modernen Lebenserfahrung geworden ist. Längst ist die Fotografie mehr als ein Abbild, mehr als ein Spiegelbild der Welt. Als Kunstgattung ist Fotografie zum Erklärungsmodell für Welt geworden. Künstlerisch poetische Arbeiten vereinen in sich den Blick auf die Welt und den Blick auf das ,imaginäre Dahinter‘ und werden so einer Sehnsucht nach Transzendenz gerecht.
Reflexion und Kontemplation
Eine Fotografin, die in ihrer Arbeit poetische Imagination mit konzeptioneller Komplexität verbindet, ist Petra Kaltenmorgen. Die 1964 geborene Künstlerin, die in Hannover lebt und arbeitet, setzt sich in ihren Fotoserien mit Mensch und Ort, mit Zeit und Raum auseinander. In ihren subtilen Fotografien gelingt es ihr – in einem Balanceakt zwischen Auflösung und Verdichtung – das Wesen der Dinge sichtbar zu machen. Ihre eindrücklichen Arbeiten öffnen dem Betrachter neue Perspektiven auf Welt und lassen ihn eine weitere Dimension hinter der sichtbaren Oberfläche erahnen.
Vier fotografische Serien prägen das Werk von Petra Kaltenmorgen: ,Blind Fields‘ (1998), ,déjà vu‘ (2001), ,GegenLicht‘ (seit 2002) und ,Seestücke‘ (seit 2003). In ,Blind Fields‘ fotografiert Petra Kaltenmorgen weiße Gegenstände auf weißem Grund. In reduzierten Grau-Weiß-Nuancen, im gekonnten Spiel zwischen Auflösung und Verdichtung, nehmen die Gegenstände gerade noch Gestalt an vor dem weißen Hintergrund. In der Serie ,déjà vu‘ zeigt die Künstlerin dem Betrachter Landschaften in der Dämmerung, die sich scheinbar zögernd – erst auf den zweiten Blick – aus dem Zwielicht zu materialisieren scheinen. In der Porträtserie ,GegenLicht‘ und der jüngsten Serie, die den Titel ,Seestücke‘ trägt, lotet Petra Kaltenmorgen die labile Balance von Mensch und Raum aus.
Die Frage nach der Verortung des Menschen in der Welt ist das zentrale Thema, mit dem sich Petra Kaltenmorgen während des Stipendiums der ZF-Kulturstiftung in Friedrichshafen beschäftigt. Zunächst arbeitet die Künstlerin an der 2002 begonnenen Serie ,Gegenlicht‘ weiter. Inspiriert durch den neuen Ort – die weite Wasserfläche und den verschleierten Horizont – beginnt die Fotografin in Friedrichshafen auch eine ganz neue Serie: ,Seestücke‘. Zum ersten Mal arbeitet Petra Kaltenmorgen, die bis dahin ausschließlich schwarzweiß fotografiert hat, in Farbe und verzichtet auf die, für sie so typischen Unterbelichtungen oder Überbelichtungen. In Friedrichshafen experimentiert die Fotokünstlerin auch erstmals mit einem neuen Medium. Sie dreht am Bodensee ihr erstes Video, in dem sie Erleben und Wahrnehmung auf der Grenze zwischen Objekt und Subjekt thematisiert.
Auch wenn die Fotoserien auf den ersten Blick nicht viel miteinander gemein zu haben scheinen, das Werk von Petra Kaltenmorgen ist trotz der unterschiedlichen Sujets konzeptuell wie stilistisch ausgesprochen kohärent. Der rigorose Sinn für das Serielle, die konsequente Reduktion und Konzentration des Bildvokabulars sowie die zentrale existentielle Fragestellung verleihen allen Arbeiten eine Ausstrahlung von Ruhe, Zeitlosigkeit und Spiritualität.
GegenLicht
„Die Reduktionen schieben darzustellende
Wirklichkeit nicht einfach beiseite, sondern
sie schaffen die Voraussetzung dafür,
die Wahrnehmung als produktives Vermögen
zu begreifen.“
(Gottfried Boehm)2
In der Serie ,GegenLicht‘ treten dem Betrachter überlebensgroße, Schwarzweiß-Porträts junger Menschen gegenüber. Die Porträts besitzen fast keine Materialität mehr und sind dabei von großer Ausdruckskraft. Die Künstlerin hat die Frauen und Männer frontal vor der Sonne fotografiert: „Ich bitte Freunde oder mir unbekannte Menschen vor die Sonne zu treten und in die Kamera zu schauen. Mensch und Sonne stehen nebeneinander und bilden einen schwer zu vereinbarenden Kontrast. Wie kann ich Person und Raum in Verbindung bringen? Es geht mir um die Erarbeitung dieser Einheit, die nicht selbstverständlich ist. Im ersten Schritt, beim Fotografieren, stelle ich mich in der Belichtung ganz auf die Person ein. Das Resultat: die Sonne überblendet die Person“, beschreibt Petra Kaltenmorgen ihre Intention. Die Fotokünstlerin, die ganz auf technische Perfektion während der Aufnahme und in der Dunkelkammer setzt, geht noch weiter: „Beim Vergrößern konzentriere ich mich auf die blendende Wirkung der Sonne. Ich verstärke die Helligkeit des Bildes, bis das Gesicht der fotografierten Person gerade noch zu erkennen ist. Resultat: Der Betrachter muss die entgrenzte Person, insbesondere den Blick ergänzen, wodurch die Figur an Präsenz gewinnt. Erst in dieser labil ausgeloteten Balance von Person und Raum, von Verdichtung und Auflösung entsteht das Bild.“
Das Paradox gelingt: Die Auflösung führt zur Verdichtung. Mensch und Raum verschmelzen, werden eins. Obwohl von der Augenpartie der Porträtierten gerade noch soviel zu erkennen ist, dass der Betrachter den Blick ergänzen kann, scheinen die Porträts den Betrachter von der Wand aus zu fixieren.
Die Arbeiten aus der Serie ,GegenLicht‘ verfügen in ihrer stillen Zurückhaltung über eine enorme Intensität. Es ist, als würde sich in der Reduzierung – durch die Immaterialität des Abbildes – das eigentliche Wesen der porträtierten Person manifestieren.
Seestücke
„Die Ungewissheit über sich selbst erzeugt
im Menschen die Neigung, sich als anderen
und im Bilde zu sehen.“
(Hans Belting)3
In ihrer jüngsten Fotoserie ,Seestücke‘ hat sich Petra Kaltenmorgen ganz von dem neuen Ort inspirieren lassen. Sie hat Ort und Zeit erlaubt, von ihr Besitz zu ergreifen. Sie ist zum leeren Spiegel geworden und hat so die Charakteristika des Ortes, das beherrschende Element, das das Leben und die Menschen am See prägt, in ihren Arbeiten eingefangen und widergespiegelt. Das allgegenwärtige Wasser ist zum beherrschenden Element geworden. Auf den 125 cm × 151 cm großen Laserchrome-Belichtungen der Serie ,Seestücke‘ sind Menschen im See zu sehen: Badende. Der Mensch vereinzelt, aber auch umgeben vom Element Wasser. Wieder geht es der Künstlerin um das Auflösen von Grenzen, um die Frage nach der Einheit von Mensch und Welt.
Auch die Serie ,Seestücke‘ besticht durch Reduktion und Konzentration. Zum ersten Mal arbeitet die Künstlerin, die sich fast zehn Jahre lang konsequent auf Schwarzweiß-Fotografie konzentriert hat, in Farbe. Doch selbst der Einsatz von Farbe ist sparsam. Lediglich eine rote Luftmatratze oder ein grüner Grasstreifen setzen Farbakzente in der weitgehend auf Himmels- und Wassertöne beschränkten Farbpalette. Auf extreme Lichtsituationen, die die Fotografin sonst genutzt hat, um den Gegenstand, die Landschaft oder den Menschen mit seiner Umgebung zu verschmelzen, verzichtet sie. Petra Kaltenmorgen setzt ganz auf die Dualität der Bildelemete zwischen Integration und Isolation.
Bildbeherrschend sind Wasser und Himmel – große, leere Flächen. Der dunstige, verschleierte Horizont scheint sich im Himmel aufzulösen. Der Bildraum dehnt sich ins Unendliche aus und suggeriert einen Eindruck von Weite, Leere und Einsamkeit. Die Personen im Wasser, meist aus großer Distanz fotografiert, sind nicht mehr zu identifizieren. Sie verlieren in der Anonymität der Badeszene ihre Idividualität. Sie werden zu Projektionsflächen für den Betrachter, der ihre Position einnehmen kann auf der Gratwanderung zwischen Identitätsverlust und Identitätsfindung.
Die zentrale, bildbeherrschende Horizontlinie und die meditative Ruhe der neuen Serie erinnern an die ,Seascapes‘ des japanischen Künstlers Hiroshi Sugimoto. Die eindringliche, leicht elegische Stimmung – ja, sogar die Komposition einiger ,Seestücke‘ – wecken Assoziationen an Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich, in denen der Mensch ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Petra Kaltenmorgen spielt mit dem Ideal der Romantik und konfrontiert es mit dem Abbild der Wirklichkeit.
Subjekt und Objekt
In Friedrichshafen experimentiert Petra Kaltenmorgen zum ersten Mal mit einem neuen Medium. Sie dreht ein Video. Den Gestaltungselementen, die sie bereits in der Fotoserie ,Seestücke‘ anwendet, bleibt die Fotokünstlerin treu. Wieder begegnet der Betrachter einer alles beherrschenden Horizontlinie. Diesmal ist es ein Bergmassiv, das sich nur schemenhaft vor einem dunstigen Himmel abzeichnet. Nur am unteren rechten Bildrand ist eine Gruppe von Menschen zu sehen.
Eine Frau lehnt an einem Geländer. Kinder laufen ins Bild, verschwinden wieder. Die Frau winkt. Hinter ihr schaut ein Mann durch ein Fernrohr, wie man es an Aussichtspunkten findet. Eine Familie? Andere Personen betreten die Plattform, zeigen ins Nichts. Was betrachten sie? Wem winkt die Frau? Die Objekte der Betrachtung bleiben dem Betrachter verborgen. Die Menschen sind ihrem Kontext, sind Ort und Zeit beraubt.
Das Video ist aus großer Distanz aus der Hand gedreht. Die Menschen sind unscharf, das Bild wackelt. Einzelne Szenen wechseln in kurzen Überblendungen, verstärken den Eindruck der Unschärfe, verwandeln die Menschen in Schemen. Lediglich die verschleierte, aber dennoch markante Silhouette des Bergmassivs gibt einen kleinen Hinweis auf den Ort. Ansonsten fehlen jegliche Bezüge. Verstärkt wird der Eindruck der Zeit- und Ortlosigkeit durch die Endlosschleife, in der sich die Bildsequenzen des Videos nach etwas mehr als zwei Minuten wiederholen. Wieder steigert die Unschärfe die Intensität und fordert vom Betrachter eine Auseinandersetzung und Stellungnahme.
Die Arbeiten von Petra Kaltenmorgen laden zum Verweilen, zur Kontemplation ein. Sie sind Oasen der Stille und Ruhe im visuellen Rauschen unserer Zeit. Die Fotografien – wie auch das Video – fordern den Betrachter zur Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz auf und setzen so einen subtilen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess in Gang.