Reinhard Kühl, 2001
geboren 1967 in Lörrach; lebt und arbeitet in Berlin
Neben der Zeit
Regina Michel
„… die Größe der wahren Kunst … lag darin beschlossen, jene Wirklichkeit, von der wir so weit entfernt leben, wiederzufinden, wieder zu erfassen und uns bekanntzugeben, die Wirklichkeit, von der wir uns immer mehr entfernen, je mehr die konventionelle Kenntnis, die wir an ihre Stelle setzen, an Dichte und Undurchdringlichkeit gewinnt, jene Wirklichkeit, deren wahre Kenntnis wir vielleicht bis zu unserem Tode versäumen und die doch ganz einfach unser Leben ist, das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte …“
(Marcel Proust)1
Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen und Schriftsteller das Geheimnis des Gedächtnisses zu ergründen. Durch Erinnerung wird das Vergangene dem Vergessen entrissen. Erinnerung stiftet kulturelle Identität und ist notwendig, um ein Bewusstsein für das eigene Ich zu entwickeln. In der zeitgenössischen Kunst nimmt das Phänomen Erinnerung, die sinnliche Reaktivierung des Vergessenen, einen zentralen Stellenwert ein. Künstler wie Gerhard Richter, Anselm Kiefer und Luc Tuymans oder auch Christian Boltanski und Heribert C. Ottersbach vergegenwärtigen in ihren Arbeiten die Vergangenheit in der Gegenwart. Die künstlerische Erinnerungsarbeit wird dabei, wie die Gedächtnisforscherin Aleida Assmann in dem Essay „Über die Metaphorik des Erinnerns“2 schreibt, zu einem „Einfallstor für das Neue“.
In der Ausstellung „Das Gedächtnis der Kunst“ im Historischen Museum und in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt waren bis März 2001 Werke international bedeutender Künstlerinnen und Künstler zum Thema Erinnerung zu sehen. Manche Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich mit Mnemotechniken und zitieren in ihren Werken Orte wie Archive, Bibliotheken und Museen, in denen Erinnerung gespeichert wird. Andere sammeln, archivieren und sichern Spuren. Gerade in der Bearbeitung des Nationalsozialismus lassen vielfältige Neuansätze ein breites Spektrum intellektueller und emotionaler Zugänge erkennen. Die meisten Kunstwerke sind mehr als eine Dokumentation historischer Ereignisse, häufig steht das Phänomen Erinnerung im Zentrum. So auch im Werk des Berliner Künstlers Reinhard Kühl. Die Vernetzung von Vergangenheit und Gegenwart, das Verschmelzen individueller Lebensgeschichten und universeller Weltgeschichte – und der Wunsch, diese dem Rezipienten wieder neu ins Gedächtnis zu rufen und so vor dem Vergessen zu bewahren – bestimmen seine Arbeit.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Die Szenen wirken wie Schnappschüsse aus einem Fotoalbum. Ein Paar steht mit einem Säugling vor einem Fachwerkhaus. Daneben ein Foto von drei kleinen Kindern am Ufer eines Sees, die gebannt zu einem riesigen Zeppelin am Himmel starren. Zunächst sind die Fotos schwarzweiß, dann tauchen erste Farbfotografien auf: Ein junges Paar mit einem Motorroller, daneben eine Familie auf dem Weg ins Strandbad. Einige der Fotos sind blass, als sei die Farbe im Laufe der Zeit verblichen. Andere, intensiver in der Farbigkeit, scheinen die gleiche Familie zu zeigen – Jahre später: Eltern und Kinder vor einem Einfamilienhaus neben einem Mercedes.
Der Fotozyklus „Onkel Karl“, den Reinhard Kühl während des Stipendiums der ZF-Kulturstiftung in Friedrichshafen geschaffen hat, suggeriert eine Lebensgeschichte zu erzählen. Die Fotos scheinen die Höhe- und Wendepunkte, die erinnerungswürdigen, herausragenden Momente eines Menschenlebens festzuhalten. Private, aber auch historische Momente, eingebunden in das individuelle Schicksal, scheinen sich mühelos verschiedenen Dekaden des 20. Jahrhunderts zuordnen zu lassen: Die Schwarzweiß-Aufnahmen zeigen Szenen aus der Kindheit und Jugend zwischen 1910 und 1930, die Hochzeit in den dreißiger Jahren und Onkel Karl im Zweiten Weltkrieg. Die Fotos, die in die Nachkriegszeit datiert werden könnten, sind bereits in Farbe aufgenommen: Das erste Eigenheim mit VW Käfer in den fünfziger Jahren, das größere Haus mit dem neuen Mercedes, ein Hinweis auf die prosperierenden sechziger Jahre.
Das angebliche Fotoalbum ist eine Illusion. Onkel Karl existiert nicht. Er ist eine fiktive Person. Beim genaueren Hinsehen entpuppen sich Onkel Karl und seine Familie als Spielzeugfiguren, Miniaturen, wie sie für Modelleisenbahnen verwendet werden. Die winzigen Spielzeugfiguren hat Reinhard Kühl auf einer Malpalette in Szene gesetzt und vor einem realen Hintergrund, einer existierenden Stadtlandschaft, fotografiert. Bildausschnitt und Perspektive sind so gewählt, dass die realen Größenverhältnisse verschwimmen, sich die virtuelle Familienszene in den realen Hintergrund einpasst. Die gleichmäßige Unschärfe, die Kühl durch den Einsatz einer Lochkamera erzielt, lässt den fiktiven Vordergrund mit dem existierenden Hintergrund, dem Bodensee, dem Strandbad und den Häusern in Friedrichshafen verschmelzen. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmt, Simulation und Realität gehen eine gleichberechtigte Symbiose ein.
Reinhard Kühl spielt im Zyklus „Onkel Karl“ mit den Erwartungen, Sehgewohnheiten und Erinnerungsbildern des Betrachters. Für die virtuelle Lebensgeschichte von Onkel Karl wählt er Motive, wie sie in den meisten Familienalben zu finden sind. Das entspricht einem Phänomen, das der Gedächtnisforscher Daniel L. Schacter beschreibt: „Viele Menschen verstehen unter Erinnerung noch immer eine Reihe von Familienbildern, die in einem inneren Album aufbewahrt werden. Doch inzwischen wissen wir, dass wir keine wertfreien Schnappschüsse früherer Erlebnisse speichern, sondern auch die Bedeutung, die Empfindungen und Gefühle aufbewahren, die uns diese Erlebnisse vermittelt haben.“3 So bietet der geschlossene narrative Fotozyklus Projektionsflächen für die privaten, persönlichen Erinnerungen des Rezipienten. In fast jeder Familie könnte es einen Onkel Karl geben. Reinhard Kühl gräbt mit dem Fotozyklus „Onkel Karl“ so auch Erinnerungsspuren aus, die die Weltgeschichte in der Lebensgeschichte hinterlassen hat. Die individuelle wird zur universellen Geschichte. Gleichzeitig hinterfragt Reinhard Kühl die Beweiskraft und Aussagefähigkeit von Fotografie, die nicht nur eine Gedächtnisstütze für persönliche Erinnerung, sondern auch eine wichtige Mnemotechnik des 20. Jahrhunderts ist.
Strandgut der Geschichte
„Sobald ein bereits gehörtes Geräusch, ein schon vormals geatmeter Duft von neuem wahrgenommen wird, und zwar als ein gleichzeitiges Gegenwärtiges und Vergangenes, ein Wirkliches, das gleichwohl nicht dem Augenblick angehört, ein Ideelles, das deswegen dennoch nicht Abstraktes bleibt, wird auf der Stelle die ständig vorhandene, aber gewöhnlich verborgene Wesenssubstanz aller Dinge frei …“
(Marcel Proust)4
Der Auslöser für die Zeitreise, die Rückkehr in die verlorene Zeit, befindet sich im Jetzt. Erinnerung geschieht im engen Kontakt mit der realen Zeit, sie vernetzt die Zeitebenen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei ist Erinnerung kein getreues Abbild, keine einfache Wiederholung, vielmehr rekonstruiert sie ein durch Erfahrungen und Emotionen modifiziertes Bild der Vergangenheit. Ein Geruch, ein Geschmack, ein Ton oder ein Bild lösen Gefühle aus, lassen vor unserem inneren Auge einen Ort und eine Situation Gestalt annehmen, die uns bekannt vorkommen, holen längst vergangene Momente zurück. Dieses Phänomen nutzt Reinhard Kühl in der Malerei, seinem zweiten Werkkomplex. Die Tafelbilder wirken, als seien sie Materialisierungen plötzlich auftauchender innerer Gedächtnisbilder. Bereits die Auswahl der Motive steht ganz im Zeichen des Erinnerns. Als Vorlagen dienen Kühl alte Familienfotos und ausrangierte Alltagsgegenstände, Fundstücke vom Flohmarkt, Strandgut der Geschichte, das er dem Vergessen entreisst. Aber auch Handtücher sind für den Berliner Künstler bildwürdig. Neben diesen Objets trouvés dient das direkte Umfeld als Inspirationsquelle. Mit offenen Augen nimmt Kühl seine Lebensräume wahr, entdeckt Bildmotive, die er zunächst im Foto festhält, um sie später zu malen. So dokumentieren Bilder, die nach Fotografien vom Strandbad, dem Turm des Zeppelin Museums, dem Zollgebäude oder einer roten Bank am Buchhornplatz entstanden sind, die Zeit in Friedrichshafen. Kühl distanziert sich beim Malen von den Motiven, verfremdet die Vorlagen, malt sie bewusst vereinfacht. Erinnerungen aus zweiter Hand lassen sich nicht mehr von den selbstfotografierten Vorlagen unterscheiden. Vertraute Gegenstände, wie die alten Haushaltsgeräte oder Handtücher sind aus dem Kontext gerissen, auf das Wesentliche, Zeichenhafte reduziert. Sie werden zu Symbolen, die über den Gegenstand hinaus auf einen Zeithorizont verweisen. Ein Handtuchbild beschwört die vierziger Jahre, die „Porträts“ eines Tauchsieders oder einer Kaffeemühle lassen die fünfziger und sechziger Jahre lebendig werden. Das Bildnis eines kleinen Jungen oder eines Spielzeugs wecken Assoziationen an Kindheit.
Vernetzte Zeit
Wie in der Fotografie geht es Reinhard Kühl auch in der Malerei nicht primär um das Einzelbild. Er arrangiert die Tafelbilder zu sogenannten Tableaus, die er immer wieder neu zusammenstellt. Die verschiedenen Motive werden so miteinander verwoben, in eine Beziehung gesetzt. Auf den ersten Blick erinnern die Tableaus an die Seite eines überdimensionalen Fotoalbums. Allerdings wären die „Porträts“ von Haushaltsgegenständen und Handtüchern in keinem konventionellen Album erinnerungs- und damit bildwürdig. Im Gegensatz zum fiktiven Fotozyklus „Onkel Karl“ ist die narrative Struktur offen. Es werden keine Geschichten im engeren Sinn erzählt, vielmehr wecken die Bilder Assoziationen, korrespondieren mit inneren Bildern, die der Betrachter mit bestimmten Dekaden des 20. Jahrhunderts verbindet.
In diesen bunten Reigen von harmlosen Gedächtnisbildern haben sich monochrome, düstere Bilder eingeschlichen. Auf den ersten Blick wirken sie fehl am Platz und ziehen dadurch die Aufmerksamkeit des Betrachters um so mehr auf sich. Sie sind menschenleer, zu Kulissen reduziert. Auch Bildtitel wie „Schienen“ oder „Bahnsteig“, bewusst neutral, ja lakonisch, stellen keinen zwingenden Kontext her. Als Interpretationshilfe dient lediglich die düstere, bedrohliche Atmosphäre dieser „Grau in Grau“ gemalten Arbeiten. Automatisch versucht der Betrachter auch diese Bilder einer bestimmten Dekade des 20. Jahrhunderts zuzuordnen. Assoziationen an den Holocaust werden wach. Als Vorlagen hat Reinhard Kühl gezielt historische Aufnahmen ausgewählt. Die Bilder sind nach Fotodokumenten über Auschwitz entstanden. Es handelt sich weder um eine Dokumentaion noch um eine Rekonstruktion von Geschichte. Vielmehr macht Reinhard Kühl den Erinnerungsvorgang selber zum Gegenstand seiner Bilder und bringt damit die Erinnerungsproblematik auf ein anderes Niveau. Nicht das Erinnerte, sondern die Schwierigkeit des Erinnerns wird zum eigentlichen Thema. Wie viele andere zeitgenössische Künstler, die den Holocaust nur noch vermittelt erfahren haben, geht es ihm um eine Erweiterung bisheriger Annäherungsstrategien eine neue Qualität des Verstehens. Was Christian Boltanski zu seinen Installationen zum Thema Holocaust sagt, bringt auch die Intention Reinhard Kühls auf den Punkt: „Ich denke, gute Kunst muss ganz persönliche Erfahrungen so auf das Essentielle kondensieren, dass daraus eine universelle Erfahrung wird.“5