Stefan Rohrer, 2015
geboren 1968 in Göppingen; lebt und arbeitet in Stuttgart
Galerie Scheffel, Bad Homburg v.d.Höhe
PARABOLIKA
Stefan Rohrer und Regina Michel im Gespräch
RM: Für das Künstlerbuch Parabolika hast Du Detailaufnahmen von der Wandarbeit Schleudertrauma Nr. 11 mal schneller, mal langsamer in Kurven über den Scanner gezogen. Was war Deine Intention?
SR: Zeit spielt in meinen Arbeiten eine wichtige Rolle. In meinen Skulpturen erzähle ich Kurzgeschichten, mache Bewegung und Zeit sichtbar. Dieser Zeitaspekt, das Infragestellen des Gefüges von Zeit und Raum interessiert mich auch bei diesem Buch.
Während bei einer Langzeitbelichtung die Dinge an der Kamera vorüberziehen, zieht der Lichtbalken des Scanner am Objekt entlang. Wenn das Objekt dann beim Scannen bewegt wird, verbiegen sich Zeit und Raum. Das Verzerren des Scanners mit seinem Lichtbalken ist wie eine Zeitlinie.
RM: Manche dieser Scans erinnern auf den ersten Blick an abstrakte Gemälde …
SR: Für mich wird der malerische Aspekt in meinen Objekten immer wichtiger. Bereits meine Entwürfe, die als erster Schritt zu meinen Skulpturen entstehen, sind eigentlich informelle Zeichnungen. Es gibt für mich immer einen Anlass aus dem heraus die Bewegung in meinen Arbeiten entsteht. Diese Bewegung finde und entwickle ich durch gestische Zeichnungen, die ich dann in Skulpturen übersetze.
Dieses Buch ist nun der Versuch, durch den Einsatz eines Scanners, neue Bilder von meinen Skulpturen zu generieren, die die malerische Qualität meiner Arbeiten hervorheben und von der vordergründigen Dinglichkeit wegführen.
Viele der Scans sind trotz ihrer Verfremdung immer noch als Details meiner Arbeit zu lesen. Selbst die auf den ersten Blick völlig abstrakten Bilder, lassen sich beispielsweise durch die Reflektionen in der Wandarbeit Schleudertrauma Nr. 11 verorten. Wenn wir etwas sehen und nicht gleich verstehen, dreht und schraubt unser Gehirn solange an den Stellschrauben, bis es unserem Verstand einleuchtet. Die verzerrten Details erklären trotz ihrer Verfremdung einerseits die Skulptur, sind gleichzeitig aber auch eigenständige Bilder, die in die Malerei abdriften.
RM: Inwieweit überwindest Du mit den neu geschaffenen Bildern auch Grenzen, die Dir bei Deinen Objekten durch die Ausgangsmaterialien gesetzt werden?
SR: Die mit Hilfe des Zufalls generierten Bilder helfen mir losgelöst von den Beschränkungen des Materials beim Prozess der Ideen- und Formenfindung.
ICH MERCEDES, DU SAAB
Auto-biografische Anmerkungen zur Kunst von Stefan Rohrer
Nicole Fritz
In einer Jurysitzung zur Kunst im öffentlichen Raum werden dem Vorsitzenden Werke von Stefan Rohrer präsentiert. Beim Anblick der ins Groteske verzerrten Vespas und Autos bricht der gestandene Landrat in sehr lautes Lachen aus, worauf sich die Atmosphäre unter den Anwesenden mit einem Schlag auffällig entspannt anfühlt.
Diese Szene ist kein Einzelfall, auch bei Eröffnungen und in Ausstellungen Stefan Rohrers konnte ich immer wieder beobachten, dass Betrachterinnen und Betrachter jeden Alters angesichts seiner Arbeiten spontan in Lachen ausbrachen. Doch über was oder wen wird gelacht und warum? Ich entscheide mich für einen auto-biografischen Zugang, um dem Geheimnis der automobilen Skulpturen auf die Spur zu kommen.
Der Blick in den Rückspiegel
Die automobile Leidenschaft ist sowohl für den Künstler als auch für die Autorin bereits von Kindesbeinen an ein Lebensthema. Während Stefan Rohrer sich geschlechtsspezifisch korrekt für Carrera-Bahnen und Spielzeugautos interessierte, gehörten auch für mich, ob ich wollte oder nicht, schnelle Autos und in rasendem Tempo vorbeiziehende Bäume, Häuser und Menschen zur frühkindlichen Erfahrung. Als Tochter eines Autoentwicklers eines großen deutschen Autokonzerns kam ich bereits mit fünf Jahren in den Genuss, am Steuer eines Mercedes zu sitzen; mit zehn war ich nicht nur Box-Autofahren sondern auch Steilkurven und Geländewagen fahren erprobt. Die väterliche Faszination an der Geschwindigkeit war insbesondere an Sonntagen bei Übertragungen von Autorennen im Fernsehen unüberhörbar; den stundenlang, aus meiner Sicht nutzlos, kreisenden Rennwagen stand ich mit interesselosem Wohlgefallen gegenüber und wunderte mich regelmäßig darüber, wie mann angesichts dröhnender Lautstärke der Rennmotoren in andächtige Trance verfallen konnte, die einen alles und jeden um sich herum vergessen ließ.
Ein Vorteil meiner automobilen Sozialisation war jedoch, dass ich zum Abitur standesgemäß ein eigenes Auto bekam, um dem Zeitgeist entsprechend mobil und flexibel zu sein. Eines Tages auf dem Weg zur Universität unterschätzte ich die winterlichen Verkehrsverhältnisse, so dass ich bereits früh in Berührung mit den Schattenseiten der Automobilisierung kam. Nach einem filmreifen Überschlag auf winterlich vereister Landstraße entstieg ich jedoch, wie durch ein Wunder unverletzt, dem noch jungen Gefährt. Der zuvor in stolzem Schwarz glänzende Ford Fiesta (Baujahr 1989) hatte sich von einer Sekunde zur anderen, die mir im Moment des Überschlags allerdings wie Stunden erschienen, in einen bemitleidenswürdigen, verbeulten Totalschaden auf vier Rädern verwandelt. Völlig unfähig zur autonomen Bewegung wurde mein Erstwagen mit geringer Lebenszeit von einem Abschleppwagen in die Richtung zurückgeschleppt, aus der er kurz vorher gekommen war. Dem Kultobjekt Auto begegnete ich fortan mit noch größerem Misstrauen und widmete mich als Kunst- und Kulturwissenschaftlerin aus der Distanz der Besonnenheit verstärkt den symbolischen Dingbedeutsamkeiten der Konsumkultur.
Auch Stefan Rohrer, 1968 geboren und wie ich der Generation Golf angehörig, entsprach keinesfalls dem Klischee eines juvenilen Vertreters der nach Erfolg und Konsum strebenden Ego-Gesellschaft wie Florian Illies in seinem Bestseller Generation Golf 1, die Teenager der 1980er Jahre charakterisiert hatte. Völlig generationsuntypisch stand auch er dem Auto als Statussymbol früh distanziert gegenüber. „Als Kind wollte ich Autodesigner werden. Als Erwachsener war das für mich politisch nicht mehr tragbar. Für mich steckt in dem Thema viel Ambivalenz drin, die Faszination am Auto war mir später auch irgendwie peinlich und ich stellte das Auto als Prestigeobjekt in Frage“. Anstatt zielstrebig eine stromlinienförmige Karriere als Autodesigner anzustreben, begann Stefan Rohrer deshalb bodenständig eine Ausbildung als Steinmetz und entschied sich erst danach, zunächst als Kunststudent an der Burg Giebichtenstein in Halle und später an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, den inneren kreativen Antriebskräften auf die Spur zu kommen.
Abstand halten
Möglicherweise, weil ihm die Erfahrung eines Autounfalls und eines damit nicht selten einhergehenden realen Schleudertraumas erspart geblieben war, konnte Stefan Rohrer sich die kindliche Faszination für das Auto bis ins Erwachsenenalter bewahren. Mit großer Stoßkraft bricht sich diese dann in den frühen künstlerischen Arbeiten affektiv Bahn.
Bereits während des Studiums lässt der Künstler dem kindlichen Willen zur schöpferischen Formfindung freien Lauf. Getragen und angezogen von der Lust an der Bewegung entwickelt er, ausgehend von Spielzeugautos und gefundenen, ausrangierten Vespas sowie realen Autokarosserien, individuelle Fantasie-Vehikel der Marke Eigenbau.
Beispielsweise Strudel aus dem Jahr 2004. Bei diesem hat Rohrer Dach und Haubenteile eines blauen VW Golf 2 (Baujahr 1983 – 1992) eigenhändig in expressionistischen Formen himmelwärts verlängert. Die in diesem Künstlerbuch dokumentierte Arbeit Schleudertrauma Nr. 11 dagegen zeigt den Zusammenstoß zweier unterschiedlich buntfarbiger Modellautos der Marken Pontiac GTO (Baujahr 1964 – 1965) und Ford Mustang (Baujahr 1964 – 1973), typische Vertreter amerikanischer Muscle Cars 2, in dem Moment, in dem deren Räder, Hecks und Miniatur-Fahrer durch den Aufprall gloriolenartig durch die Luft geschleudert werden. Einer fotografischen Momentaufnahme gleich, ist der Höhepunkt der zentrifugalen Fliehkräfte skulptural eingefroren. Auch wenn der Künstler die Bewegungsform der Autos weiterlaufen lässt und den Zusammenstoß nicht zeigt, schwingt die Katastrophe letztlich gedanklich dennoch mit und findet gleich einem religiösen Memento Mori ihre unausweichliche gedankliche Fortsetzung in den Köpfen der BetrachterInnen – mit oder ohne Schleudertrauma-Erfahrung.
Rohrers grazile starkfarbigen Memento Mori aus Blech stehen zum einen, da reale alltägliche Objekte in die Kunst überführt werden, in der Tradition der Pop Art. Die elegante malerische Linienführung von Schleudertrauma Nr. 11 und seiner anderen Wandreliefs, erinnert darüber aber hinaus auch an die Futuristen, die das Automobil und den damit verbundenen Rausch der Geschwindigkeit zu Beginn des letzten Jahrhunderts verherrlichten. Dieser Faszination für die Bewegung und die Oberflächenästhetik der Ware hat der Künstler mit diesem Künstlerbuch nun eine weitere Facette hinzugefügt, indem er fotografische Abbildungen des Werkes Schleudertrauma Nr. 11 gescannt und wie die realen Arbeiten verzerrt und verfremdet reproduziert hat.
Indem Rohrer die dynamischen automobilen Bewegungsformen in seinen Werken ins Groteske überzeichnet, schießt er im wahrsten Sinne des Wortes über die positivistisch in die Zukunft gerichtete Technikgläubigkeit der Moderne hinaus und nimmt aus einer postmodernen Haltung heraus zum vorwärtsgerichteten positivistischen Optimierungs-Paradigma der Leistungsgesellschaft schneller, höher, weiter im Hier und Jetzt skeptisch-ironisch Stellung. Eine mögliche Erklärung für das Lachen des Landrates!?
Die postmoderne Distanz des Künstlers zum Schein der Wohlstandsgesellschaft mit ihren genormten Fassaden-Identitäten wird auch in der Arbeit Lothar 2007 auf humorvolle Art und Weise deutlich. Die Gleichförmigkeit kleinbürgerlicher Vorstadt-Siedlungen unterläuft Rohrer subversiv dadurch, dass er in die Modell-Reihenhäuschen en miniature in Anspielung auf den Sturm Lothar formal, umgangssprachlich formuliert mal so richtig den Rauch reingelassen hat.
Während Stefan Rohrer, von der Öffentlichkeit noch relativ unbemerkt, schrittweise seine konstruktive Formensprache aus Schrottteilen und erfundenen, selbstentworfenen Formen für sich weiterentwickelte und verfeinerte, kam ich an der Universität Tübingen als Geistesarbeiterin in fortgeschrittenem Stadium, zum Leidwesen meines Vater, in Berührung mit kulturkritischen Ansätzen, die sich in den 1980er Jahren verstärkt mit der Ambivalenz einer automobil zentrierten Konstruktion der Wirklichkeit auseinandersetzten.
Express yourself
Besonders prägend waren für mich die französischen Soziologen, Bücher wie Die feinen Unterschiede 3 von Pierre Bourdieu oder Das System der Dinge 4 von Jean Baudrillard, die aufzeigen, wie der Mensch in der modernen Konsumgesellschaft zur Identitätskonstruktion und Selbstdarstellung auf die Dingkultur zurückgreift. Nach dem Motto Ich Prada, Du Armani 5 gerät der Funktions- und Gebrauchswert der Dinge im Lifestyle-Kapitalismus zunehmend in den Hintergrund. Wichtiger als die Funktion der Dinge ist das, was die Waren bedeuten und an Gefühlen beim Konsumenten auslösen. „Wir sind, was wir kaufen“ 6, heißt es in der aktuellen feuilletonistischen Neuauflage dieser Erkenntnis des Schriftstellers Robert Misik. „Ich bin ein Ich, weil ich Prada trage und nicht Armani“. Mit den Produkten kauft man Lebensstile, die zu einem passen und die eigene Identität modellieren. „Die Menschen“, schreibt der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme, „erweitern ihre Ich-Grenzen auf immer mehr Gegenstands-Sphären. Niemals zuvor war die dingliche Umwelt vergleichbar dicht, mannigfaltig, verlockend, künstlich, faszinierend …“ 7.
Es liegt auf der Hand, dass insbesondere das Produkt Auto große Potentiale zum Ich-Tuning birgt und für eine derart außenorientierte Sinngebung geradezu prädestiniert ist. Nach dem Motto Ich Mercedes, Du Porsche, bietet die Automobilindustrie eine ganze Kollektion von Auto-Identitäten quasi von der Stange. Vom robusten Geländewagenfahrer bis zum Intellektuellen mit dem schwedischen Auto.
Während ich schreibe, kommt mir der Kommilitone Dirk Stork wieder in den Sinn. Dieser hat mich damals im Studium beeindruckt, weil er gegen das Auto als Ersatzidentität und Seelenprothese unter dem Titel Der Ritualisierte Umgang mit individueller Mobilität als Weg der Identitätsfindung? Eine automobile Kultour 8 leidenschaftlich ins Feld gezogen ist. „Diese Pseudoidentitäten, wie sie das Auto bieten“, schrieb Stork zu Beginn der 1990er Jahre, in seiner Zwischenprüfungsarbeit im Fach Empirische Kulturwissenschaft, „haben zwar den Vorteil, dass sie ständig an die Erfordernisse angepasst werden können, als Träger echter Identität … sind sie jedoch austauschbar und pflegeleicht, sozusagen sozial abwaschbar“ 9. Pamphletartig forderte er deshalb, nicht den Konsum sondern die Entwicklung einer innengeleiteten Identität, die der Einzelne aus sich selbst heraus in einem reflektiven Prozess entwickelt, wieder in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Den Menschen sollte, so das Fazit von Stork, durch verstärkte gesellschaftliche Angebote ermöglicht werden, ihre Persönlichkeit gleich einem Künstler und Wissenschaftler im kreativen Prozess zu finden und auszudrücken. Womit wir in der Gegenwart angekommen wären.
Während ich diese Zeilen von früher erneut lese, wird mir klar, was mich an Rohrers individualisierten Automobilen von Beginn an so fasziniert hat. Als Gegenmodelle zur Hochglanzästhetik automobiler Produktpaletten sind seine vier- und zweirädrigen Kunstgeschöpfe formgewordener authentischer Ausdruck individueller Freiheit; sie sind beseelt und verkörpern als Ausdruck eines innengeleiteten Lebens weniger den Schein als vielmehr Authentizität und damit nicht zuletzt auch die Freiheit der Kunst. Ich stolpere über das Zitat von Roland Barthes, dass sich die Wahrheit am besten aus dem Abfall lesen lässt, und meine Hochachtung vor der Rohrerschen Position steigert sich blechgladiolenartig himmelwärts ins Unendliche.
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Rohrer ist ein moderner Schamane, der bereits entwertete, industriell gefertigte Massenprodukte, die austauschbare Ware von der Stange, aufopferungsvoll, in stundenlanger handwerklicher Arbeit durch seinen manuellen Eingriff erneut beseelt und damit als Kunstfetisch erneut re-auratisiert. Stellvertretend für uns sucht er stoisch aufrecht nach der Wahrheit im Schrott, so dass wir gar nicht anders können, als unser Begehren und Streben im Spiegel eines von Künstlerhand zu neuem Leben erweckten Ford Mustangs, Opel Kadetts oder VW Käfers zu erkennen und über uns selbst zu lachen.
Mein Job ist erledigt. Nach dem Interview mit Stefan Rohrer fahren wir gemeinsam zu einem Stuttgarter Atelierhaus, das dem Zeitgeist entsprechend nicht nur zufällig auf dem Schrottplatz angesiedelt ist. Der Blick des Künstlers fällt auf eine verbeulte Porsche 911 Karosserie. Seine Augen beginnen zu leuchten und ich bin sicher, dass auf dieses Wrack, anders als möglicherweise für den darin Verunglückten, ein zweites Leben in der Kunst wartet; vielleicht sogar eine alle Zeiten überdauernde ewige Existenz im Museum.