Volker W. Hamann, 2004
geboren 1962 in Stuttgart; lebt und arbeitet in Filderstadt bei Stuttgart
Die Selbstverständlichkeit der Dinge
Regina Michel
„Um den Menschen zu einem neuen Sehen zu erziehen,
muß man alltägliche, ihm wohlbekannte Objekte
von völlig unerwarteten Blickwinkeln aus und in
unerwarteten Situationen zeigen.“
(Alexander Rodtschenko)1
Die Frage nach der existentiellen Vernetzung von Mensch und Raum im Spannungsfeld zwischen Natur und Zivilisation steht im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens von Volker W. Hamann. In den vergangenen Jahren hat der vielseitige Künstler, der sich bisher vor allem als Holzbildhauer einen Namen gemacht hat, die Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel für sich wieder entdeckt. Wie in den Skulpturenserien, die Namen wie ,Körperstädte‘ und ,Stadtkörper‘ tragen, fragt Hamann in seinen beiden jüngsten Fotoserien nach der Verortung des Menschen in Welt. Dabei bildet er Wirklichkeit nicht einfach ab. Er kratzt an der sichtbaren Oberfläche, legt Bruchstellen frei. Aus Abbild und Wirklichkeit entstehen neue Bildwelten.
DER IN DER FREMDE GESCHULTE BLICK
Zwei Orte, die unterschiedlicher kaum sein könnten, bestimmen das fotografische Werk: Piotrków Trybunalski, eine Stadt mitten in Polen, und Friedrichshafen am Bodensee. Auslöser für die Fotoserien ist in beiden Fällen ein Ortswechsel: 1997 ein Künstlersymposium in Piotrków Trybunalski, 2004 das Stipendium der ZF-Kulturstiftung in Friedrichshafen. Die tief greifende Zäsur, die seinem künstlerischen Schaffen völlig neue, entscheidende Impulse geben wird, ist der Aufenthalt in Polen. Immer wieder wird der Künstler in den folgenden Jahren nach Piotrków Trybunalski zurückkehren.
Hamann nähert sich dem neuen Ort vorbehaltlos. Staunend und überwältigt wandert er durch die Straßenschluchten. Der Bildhauer ist fasziniert von der Monumentalität und strengen Geometrie der Plattenarchitektur, die sich schmucklos, auf das Wesentliche reduziert, aus standardisierten Modulen zu einem urbanen Organismus organisiert. Er lässt die Verunsicherung zu. Der neu entdeckte Stadtkörper übt eine ganz eigene Faszination auf ihn aus, verfügt über eine ganz eigene Poesie. Wie überdimensionale Skulpturen erlebt Hamann die Plattenbauten: „Ich hatte das Gefühl, als würde ich durch einen Skulpturenpark wandern, der sich mir aufgrund der Monumentalität der Skulpturen in extremer Untersicht – aus der Froschperspektive – präsentiert“.
NEUE PERSPEKTIVEN AUF WELT
„Das Sehen ist nicht die Metamorphose der Dinge
in ihr Gesehenwerden, …. Es ist vielmehr ein Denken,
das streng die im Körper gegebenen Zeichen entziffert.“
(Maurice Merleau-Ponty)2
Der Ortswechsel wird zum Wechsel des Betrachterstandpunktes und öffnet ihm die Augen für ganz neue Bildwirklichkeiten. Der in der Fremde geschulte Blick, der Wechsel der Perspektive, stellt sein Bild von Welt in Frage, verändert das Werk Hamanns grundlegend: Der Bildhauer entdeckt das Quadrat, die Öffnung durch den Stamm und den, in die Skulptur hineingehenden Raum, den er später als ,Unraum‘ bezeichnen wird, und der in der Skulptur ein Hinweis auf das ,Nichtvorhandensein einer allgemeingültigen und objektiven Wirklichkeit‘ ist. Und: Der Künstler besinnt sich auf die Wurzeln seines künstlerischen Schaffens. Die Fotografie wird erneut zum wichtigen Ausdrucksmittel. Mit der Kamera in der Hand versucht er, das Besondere, das Andere im Bild festzuhalten. Mit untrüglichem Blick bannt er das Fremde aufs Papier. Das urbane Stadtgefüge präsentiert sich in den Fotoarbeiten aus Piotrków Trybunalski mit überwältigender skulpturaler Präsenz. Nicht von ungefähr wecken Fotoarbeiten wie ,Gefängniskreuz‘ Assoziationen an seine Holzskulpturen.
Die Fotoarbeiten aus Polen sind eindringlich und atmosphärisch dicht. Der Betrachter begegnet jedoch nicht nur der unnahbaren Stadtskulptur, er begegnet auch ihren Bewohnern. Passanten queren die Straße, Straßenverkäufer bieten ihre Ware in Unterführungen feil. „Die Aufnahmen geben einen kleinen Einblick in eine Wirklichkeit, die so fremd und so andersartig auf uns wirkt, die jedoch gleich neben uns beginnt.
Bei diesen Fotos ist mir wichtig, dass immer wieder Menschen abgebildet sind. Bewohner dieser Betonkuben, Passanten, die unbeabsichtigt und ungewollt einen zentralen Punkt in diesen Aufnahmen erhalten.“ Volker W. Hamann hat in Polen Fotografien geschaffen, in denen der Betrachter einer fremden Wirklichkeit begegnet, die es so in wenigen Jahren nicht mehr geben wird. Das Fremde ist diesen Arbeiten so immanent, dass Hamann auf jegliche Manipulation verzichten kann. Eine weitere Verfremdung würde den Blick für das Andere nur verstellen.
DAS SPIEL MIT WAHRNEHMUNG UND WIRKLICHKEIT
Die Fotografien, die während der Arbeitsaufenthalte in Polen entstehen, sind der Ausgangspunkt und der Schlüssel für das fotografische Werk in Friedrichshafen. Mit ihnen bewirbt sich der 1962 geborene Künstler um das Stipendium der ZF-Kulturstiftung 2004, dessen Thema ,Überfluss – Gesellschaft‘ lautet. Vor allem ist der Polenzyklus der Beginn der fotografischen Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum – nicht zuletzt als Spiegel gesellschaftlicher Ordnung.
So unterschiedlich wie sich die beiden Orte dem Künstler präsentieren, so unterschiedlich sind die künstlerischen Strategien, mit denen Hamann die urbane Wirklichkeit der beiden Stadtgefüge im fotografischen Werk ins Bild setzt. Begegnet der Betrachter auf den Fotografien aus Polen etwas Fremdem, zeigt Hamann in Friedrichshafen das Selbstverständliche, das Alltägliche fremd. Wieder ist der Ausgangspunkt für seine Arbeit die erlebte, vorgefundene Realität. Wieder nähert sich Hamann dem neuen Ort über den öffentlichen Raum. Anders als in Polen ist ihm das urbane Muster des neuen Ortes vertraut. „Über Polen kam ich nach Friedrichshafen … begann mir an diesem neuen Ort … Gedanken über die mich umgebende Gesellschaft zu machen, … wurde verunsichert und erkannte, verunsichern zu müssen“, erinnert sich Hamann. Hatte er sich angesichts der Monumentalität und strengen Geometrie der Plattenbauten in Polen ganz automatisch in die Froschperspektive versetzt gefühlt, sucht er in Friedrichshafen den ungewöhnlichen, fremden Betrachterstandpunkte. Er stellt Sehgewohnheiten, auch die eigenen, in Frage: „Was geschieht, wenn wir beginnen, Tägliches und Alltägliches aus einer anderen als der gewohnten Position zu betrachten? Was passiert, wenn wir beginnen gewohnte Muster und Strukturen aufzubrechen, von denen wir glauben, uns in Ihnen stark und sicher zu fühlen, die jedoch letztlich nur die Wände eines allzu engen Gefängnisses darstellen?“
DER TRÜGERISCHE BLICK
„Die Perspektive ist viel mehr als ein technischer Trick
zur Nachahmung einer Realität, …; sie ist
die Erfindung einer beherrschten Welt, die man in
einer spontanen Synthese ganz und gar besitzt, von der
der spontane Anblick uns höchstens die Umrisse
bietet, wenn er vergeblich versucht, all jene Dinge,
von denen jedes ihn gänzlich gefangen nehmen will,
zusammenzuhalten.“
(Maurice Merleau-Ponty)3
Volker W. Hamann experimentiert in Friedrichshafen mit kühnen Perspektiven, mit Spiegelungen und Verdoppelungen. Er fotografiert selbstverständliche, vertraute, ganz banale Orte: immer wieder Treppenhäuser. Menschenleer. Der Bezugspunkt Mensch fehlt. Er wählt den fremden, ungewohnten Standpunkt, experimentiert mit dem Fotomaterial. Aus extremer Untersicht fotografiert er den Aussichtsturm am Hafen in Friedrichshafen bei strahlendem Sonnenschein mit einem Kunstlichtfilm. Das Ergebnis ist verblüffend. Der Treppenturm, der sich in schier unendlichen Windungen in den Himmel schraubt, verwandelt sich in ,TAT-32‘ in eine abstrakte, zweidimensionale Projektion in kalten Blautönen. Das Motiv der Treppe wird ad absurdum geführt: Die flächige Projektion führt ins Nichts.
Auf digitale Manipulation verzichtet Hamann bei den Treppenbildern, dennoch sind es gerade diese Arbeiten, die dem Betrachter die größten Rätsel aufgeben. Alleine durch den ungewohnten Ausschnitt und die ungewöhnliche Perspektive reduziert Hamann die vorgefundene Realität auf ihr abstraktes Konstruktionsprinzip. In Arbeiten wie ,TAT-32‘ oder ,TMRH-18‘ überwindet Hamann die Perspektive des Quatrocento und fragt so auch nach einer Wirklichkeit hinter der sichtbaren Oberfläche. Die ungewohnte, die ,verrückte Perspektive‘ stellt das gewohnte Weltbild in Frage.
EINBLICKE, DURCHBLICKE, AUSBLICKE
Hamann geht noch weiter: Er gestaltet durch digitale Manipulation ganz neue, virtuelle Bildwelten. Ausgangmaterial für das – diesmal offensichtliche – Spiel mit Realität sind Fotografien von Gängen, Türfluchten, Fensterbändern aus Friedrichshafen und aus Polen. Durch Spiegelung und Verdoppelung erfindet er den Raum neu. Er kreiert fantastische, irreale Räume, die Einblicke, Durchblicke und Ausblicke auf Welt immer wieder neu variieren und neu erfinden. Die digitale Verfremdung, die Spiegelung und Verdoppelung, bleibt in diesen Arbeiten sichtbar. Hamann will keine perfekte Illusion. Er will Sehgewohnheiten in Frage stellen und so neue Türen der Wahrnehmung öffnen. Die Vielzahl der offenen Türen und die vervielfältigten Gänge wecken aber auch Assoziationen an Traumsequenzen. Auf Arbeiten wie ,Ateliergang Oronsko‘ oder ,Dom Studenta blau‘ führen die Gänge dunkel verschattet ins Ungewisse, während die Tunnel in ,Pioma Love 2‘ ins Licht führen. Die Gänge, die sich im Unendlichen – im Dunkel oder im Licht – verlieren, erinnern an Filmsequenzen von Stanley Kubrik, der das Motiv des schier endlosen Tunnels, der hinter jeder Wegbiegung wieder neu beginnt, immer wieder einsetzt. Welche Tür ist die richtige? Welcher Weg führt zum Ziel? Was befindet sich am Ende des Tunnels?
ORIENTIERUNGSPUNKT NATUR
Ein weiterer wesentlicher Teil des in Friedrichshafen entstandenen fotografischen Werkes sind Landschaftsaufnahmen. Wieder hat Hamann nach dem adäquaten Ausdrucksmittel gesucht. Er wechselt das Format und greift zur russischen Panoramakamera. Der alles beherrschende Horizont verlangt nach Raum. In ,Eiszeitstille 10‘ scheint sich der dunstig verschleierte Horizont im Himmel aufzulösen und suggeriert so einen Eindruck von unendlicher Weite. Der Bodensee als realer Ort tritt in den Hintergrund. Die Panoramafotografien meinen keinen konkreten Ort, keine konkrete Zeit. Die Landschaften, oder wie Hamann sie nennt, die ,Seeschaften‘, werden zum Synonym für Natur. „Die Seeschaften sind die Ruhe- und Fixpunkte, an denen angehalten; die Orientierung wieder gefunden und eine Selbstreflexion wahrgenommen werden kann“, erläutert Hamann die existentielle Bedeutung von Natur als Gegenpol zu der vom Menschen gestalteten Zivilisation.
DENKANSTÖSSE
Das fotografische Werk von Volker W. Hamann ist vielschichtig. Es verweigert sich dem schnellen Blick. Es stellt Sehgewohnheiten, die selbstverständliche, unreflektierte Wahrnehmung von Welt, in Frage. Seine Fotoarbeiten sind Denkanstöße, sind Stolpersteine, die den Betrachter zwingen, inne zu halten und sich mit der eigenen Existenz auseinander zu setzen. Sie verändern die Wahrnehmung, das Erleben, ja, die Erkenntnismöglichkeit von Welt. Sie fragen nach der menschlichen Existenz im Spannungsfeld zwischen Natur und Zivilisation. Sie öffnen dem Betrachter neue Perspektiven auf Welt, auf vergangene, gegenwärtige und mögliche zukünftige Wirklichkeit.