Sinje Dillenkofer, 2009

Seitenverhältnis
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geboren 1959 in Neustadt an der Weinstraße; lebt und arbeitet in Berlin und Stuttgart

 

 


Vita
Lehraufträge an der Hochschule für Gestaltung Pforzheim (HFG), der Fachhochschule Pforzheim (FH) und der Merzakademie Stuttgart
2000 – 2004
Vertretungsprofessur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Preise und Stipendien (Auswahl)
2009
Stipendium ZF Kunststiftung
2002
Artist-in-Residence, Museum Neue Galerie, Graz
1996
Casa Baldi, Olevano Romano, Italien
Paul-Strecker-Preis, Mainz
1990
Stipendium Cité Internationale des Arts, Paris
Einzelausstellungen (Auswahl)
2015
Architekturen des Archivs, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck
2013
SCHNITTSTELLE, Ostfriesisches Landesmuseum Emden
2011
LIFELINES, Galerie der Stadt Backnang
2010
CASES 2009 – 10, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
2009
CASES, Villa Oppenheim, Galerie für Gegenwartskunst, Berlin
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2015
Beneath The Surface, Victoria and Albert Museum, London 
Jäger und Sammler in der zeitgenössischen Kunst, Villa Merkel, Galerie der Stadt Esslingen; Museum Morsbroich, Leverkusen
Mapping the Museum, Saarlandmuseum, Saarbrücken
Katalogtexte

CASES 2009 – 10

Regina Michel im Gespräch mit Sinje Dillenkofer

RM: Du fotografierst seit einigen Jahren die Innenansichten  historischer Behältnisse, in denen Tafelsilber, Prunkgefäße oder technische und wissenschaftliche Geräte aufbewahrt wurden. Was war deine Motivation zu dieser Serie?

SD: Bei einem Besuch des Karlsruher Landesmuseum 2001 stieß ich zufällig auf den Toilettenkasten von Stephanie von Baden, der 1870 ein Geschenk Napoleon Bonapartes zu ihrer Verlobung war. Mich überraschte die für heutige Verhältnisse ungewöhnliche handwerkliche Opulenz und Materialität, diese Hingabe, die doch „nur“ einer Funktion, nämlich der Lagerung einiger Objekte, diente. Gleichzeitig erzeugten sie eine Landschaft an Linien, Formen, Vertiefungen und Erhebungen, die sich im Deckel des Koffers als Druckstellen und Schraffuren abzeichneten und mich an eine Skizze von Cy Twombly erinnerten. Ich entdeckte eine Kiste voller Projektionen, Sehnsüchte, Interessen und Wertvorstellungen, die mir jetzt, hinsichtlich unseres erweiterten Kunstbegriffs, 150 Jahre später betrachtet, eine interessante Ausgangsbasis künstlerischer Erkundungen zu sein schien.

RM: Du entleerst die Behältnisse, bevor du sie fotografierst. So bleiben lediglich die Kästen mit den Aushöhlungen, ausgeschlagen mit Samt und Seide zurück. Welche Rolle spielen die abwesenden Gegenstände, die nur als Abdruck sichtbar sind?

SD: Die Objekte sind Inhalt und Form bestimmend und der Ausgangspunkt für das Zustandekommen der abstrakten Formen, die in Deckel und Boden der Behältnisse zu deren Lagerung passgenau eingearbeitet wurden. Darüber hinaus sind sie für mich Referenzen ihrer Zeit und geben Auskunft über ihre originäre Funktion und die Gesellschaft, aus der sie stammen. Zwar sind sie im Bild abwesend, in Form von Vertiefungen und Druckstellen, als Negativform und Abdruck der Originale aber sozusagen auratisch anwesend. Aussehen und Beschaffenheit der realen Gegenstände überlasse ich der Fantasie des Betrachters.

RM: Inwieweit geht es in deiner Arbeit auch um das Sichtbarmachen von Alterungsprozessen, von gelebtem Leben, das Spuren hinterlassen hat?

SD: Die Lagerungs- und Gebrauchsspuren in den Behältnissen sind mir wichtig. Sie ermöglichen es mir, Vergangenheit und damit Zeit sichtbar zu machen, indem ich sie fotografiere und als abstrakt malerisch zeichenhafte Linien und Schraffuren abbilde. Als solche verkörperlichen sie auch menschliche Präsenz, machen den Nutzer der Behältnisse „nachweisbar“ und im Bild trotz seiner Abwesenheit gegenwärtig. Dem Betrachter steht separiert vom Kunstwerk, quasi als Untertitel, eine Information zur Verfügung, die ihm über das Behältnis, seinen Besitzer, seine Funktion und Zeit Auskunft gibt. Es obliegt jetzt seiner Fantasie, das Nicht-Sichtbare zu beleben, zu personifizieren, ihm eine Geschichte zu geben. Dabei können die Neugier des Betrachters, seine Lebenserfahrung und assoziative Vorstellungskraft eine große Rolle spielen, um das, was er sieht, für glaubwürdig zu befinden. Wird das Abwesende für ihn anwesend, Anonymes personifizierbar, Vergangenes gegenwärtig oder umgekehrt? Die Fotografie entleiht der Realität einen Moment, extrahiert ihn aus seinem originären Umfeld und materialisiert ihn fotografisch im neuen Kontext der Kunst. Verfährt der Betrachter mit dem, was er sieht und wie er es für sich lebendig werden lässt, nicht ebenso?

RM: Es sind vor allem wertvolle Gegenstände, die in diesen Etuis und Kästen gelagert werden. Welche Rolle spielt die metaphysische Aufladung durch die Wertigkeit der abwesenden Gegenstände?

SD: Sind sie überhaupt wertvoll? Was macht für wen ihren Wert aus? Sie geben Auskunft über die Interessen bestimmter Gesellschaftsgruppen und zeichnen den Wechsel der Macht von Monarchie, Adel zum Bürgertum bis in die Neuzeit nach. Handelt es sich bei ihnen nicht überwiegend um Insignien von Macht, die den Besitz von Bildung und Wissen aus Technik, Forschung und Kultur repräsentieren? Gibt nicht das Verhältnis von Wert und Funktion in Relation zur Ausstattung seines Behältnisses in den Fotografien dem Betrachter Auskunft über die Bedeutung der jeweilig abwesenden Gegenstände und deren ideeller Werte? Häufig findet sich der Wert in den dahinter liegenden Geschichten, auch in neuen Beziehungen, die sich aus bildnerischen Analogien ergeben können. In den CASES stehen sowohl die Behältnisse als auch ihr Inhalt und deren Besitzer jeweils in einer Funktion. Sie dienen einer Idee oder stehen im Dienst eines gesellschaftlichen Interesses. All dies findet in ein abstraktes Bild übersetzt zu einer eigenständigen Form, die wiederum Funktionen im gesellschaftlichen Leben ihrer jeweiligen Zeit übernimmt. So stellt sich nicht zuletzt die Frage, in wessen Dienst die Kunst am Beispiel der abstrakten Malerei damals stand und heute steht und wie autonom sie innerhalb eines bestimmten Kunstbegriff und einer bestimmten Kultur sein kann.

RM: Welche Bedeutung haben Begriffe wie Schönheit und Ästhetik für die CASES?

SD: Was galt damals als schön und was befinden wir heute für schön? Inwieweit wurde und wird Schönheit als Ausdruck von Macht und für Repräsentationszwecke eingesetzt? Für mich entsteht Schönheit in der Art, wie wir uns mit den Dingen in Beziehung setzen. Lassen sich deren Wesen und individuelle Besonderheit überhaupt als etwas Wahrhaftes und in diesem Sinne Schönes sichtbar machen? Ich nutze Ausdrucksformen des Schönen, das Sujet an sich, und spiele mit dem, was der Betrachter für vermeintlich attraktiv, edel, ästhetisch und daher vertraut befindet und dem, was er für hässlich, fremd oder bedrohlich hält.

RM: Du setzt die Behältnisse mit Licht in Szene, nutzt Farbe und Form zugunsten eines malerischen Ausdruckes und betonst dabei die abstrakte, zeichenhafte Qualität in deinen Fotografien.

SD: Durch die Fotografie werden aus organischen Materialien wie Ziegen- und Rehleder, Samt und Seide, mit denen die Behältnisse ausgeschlagen sind, malerische Gebilde. Aus mit Holz oder synthetischen Materialien wie Metall, Filz oder Plastik ausgearbeiteten Kästen werden geometrisch, graphische Bilder, die manchmal an Konkrete Kunst erinnern. Linie, Form und Farbe, an sich Stilmittel der Malerei, werden fototechnisch ausgearbeitet, zu den eigentlichen Gestaltern meiner Fotografien. Licht und Schatten helfen mir, der Sehgewohnheit des Betrachters entgegenzuarbeiten und realistische Bezüge in den Bildern aufzuheben. Sie lassen Dreidimensionales zweidimensional erscheinen und umgekehrt, in dem sie beispielsweise Dunkles, faktisch räumlich tiefer Liegendes, ans Licht holen oder hell Beleuchtetes zurücktreten lassen. Unsere Sicht auf das Objekt ist zentralperspektivisch fixiert und vorgegeben. Die Brennweite des Objektivs, der Abstand zum Objekt und der Blickwinkel, der sich daraus ergibt, nehmen sichtbar Einfluss auf die Wiedergabe der Oberflächenstruktur des Bildes.

RM: Apropos Oberflächenstruktur, welche  Bedeutung hat die Wahl verschiedener Materialien für die Präsentation?

SD: Sie helfen das Wesen der Bilder für den Betrachter erfahrbar zu machen. Je nach Materialität ihrer Bildoberflächen können sie ihn sinnlich ansprechen, in sich hineinsaugen oder von sich distanzieren. Letzteres geschieht bei den farbigen Fotoabzügen, die unter Glas kaschiert sind. In ihnen spiegelt sich der Bildbetrachter wie in einer Versiegelung, die sich zwischen ihn und den eigentlichen Bildraum schiebt, während die schwarzweißen Papiere, das Baryt-, Silbergelatine- oder Büttenpapier, aus organischen Materialien wie Zellulose bestehen, matt und ungeschützt wie eine Haut oder Membran dem Auge des Betrachters unmittelbar begegnen. Die Bilder thematisieren ihren Bezug vom Bildraum zum Außenraum durch ihre Rahmung. Sie werden objekthaft, klassisches Tafelbild oder zur architektonischen Fläche, die keine Rahmung benötigt.

RM: Die zum Teil großformatigen Fotografien geben dem Betrachter keinerlei Hinweise zur realen Größe, Funktion und dem ursprünglichen Kontext der abgebildeten Behältnisse. Welche Rolle spielt das Format?

SD: Einige der Fotoabzüge aus den CASES sind kleiner und manche zehnfach größer als die Originalobjekte. Es geht mir darum, deren Wiedererkennbarkeit in ihren fotografischen Abbildungen so zu reduzieren, dass sie sich als abstrakte Bilder in eigener Dimension verselbstständigen und den Betrachter neugierig machen. Wie verändert sich deren Wirkung je nach Größe und Verhältnis von Betrachter, Bildraum und Umraum in Anbetracht dessen, dass unser Körper Maßstab unserer Wahrnehmung ist, nach der wir entscheiden, ob wir beispielsweise ein Bild groß bis bedrohlich oder klein bis niedlich empfinden? Indem ich die Bilder als Tapete wandfüllend montiere, könnten sie visuell, als Rauminstallation auch physisch begehbar werden.

RM: Inwieweit willst du so auch die herkömmliche Ordnung des Sichtbaren infrage stellen?

SD: An was bemisst sich diese Ordnung, in einer Gesellschaft, in der alles schnell erkennbar, mess-, bewert- und kontrollierbar sein soll? Ich spiele mit den Seh- und Bewertungsgewohnheiten des Betrachters und lade ihn indirekt ein, sich zu fragen, was er sieht und neu wahrnimmt oder ob er nur sieht, was er wiedererkennt. Das eigentlich Sichtbare findet doch nur in seinem Kopf statt.

RM: Deine Recherchearbeit lässt mich an Feldforschung denken. Siehst Du einen Forschungsaspekt in deiner Arbeit?

SD: Nicht im Sinne einer rein wissenschaftlichen Methode. Es sind Fragen, die ich intuitiv oder konzeptionell künstlerisch thematisiere. Anders als früher meine Malerei und Radierung oder heute die Zeichnung und der Computer ermöglicht mir die Fotografie, ein Sujet abzubilden, seine Echtheit auf einen Moment bezogen zu behaupten, um dies als Konzept zum Maßstab und zur Ausgangsbasis weiterer Wahrnehmungs- und Kontextverschiebungen machen zu können.

RM: Zum Bild geworden können wir die fotografierten Objekte wie in einem Archiv jederzeit neu betrachten, vergleichen und analysieren. Welche Rolle spielen Aspekte des Bewahrens, des Dokumentierens, der Vergleichbarkeit und damit der Typologie?

SD: Anders als im wissenschaftlichen Archiv geht es mir nicht um Ordnungsprinzipien an sich, das Bewahren und den Speicher als Werkzeug zur Forschung oder um Vollständigkeit. Der Umfang meiner Arbeiten ist durch mein Interesse bestimmt. Bei den CASES geht es mir um typologische Vielfalt an Abstraktionen, die sich formal und inhaltlich durch die Vor- und Angaben, und falls gegeben, geschichtliche Referenz der Behältnisse ergeben. Sie sind zentral, orthogonal, maßstäblich erhaltend, in diesem Sinne dokumentarisch abgebildet. Sie können auch als Dokumente verschiedener Prozesse der Wirklichkeitsaneignung verstanden werden. Auf Grund der Recherchen und um inhaltlich spezifische Aspekte herauszuarbeiten und vergleichen zu können, entwickelten sich die CASES zur Serie. Wie bedingen sich Funktion und fotografisch realisierte Abstraktion der Behältnisse? Warum stammen alle meine recherchierten Kästen aus dem westlichen Kulturkreis? Spiegelt sich in ihnen die Sehnsucht des Menschen, das für ihn Schöne und Wertvolle unvergänglich zu machen, das Leben an sich verewigen zu wollen und damit das menschliche Urbedürfnis, Kontrolle über Leben und Tod zu erlangen? Diese Fragen sind so grundlegend, dass sie in allen Kulturen neu gestellt werden können. Damit stellt sich mir die Frage nach der Idee und Bedeutung von Archiv an sich.

 

Vom Blick Dazwischen

Beate Ermacora

Mit ihrer Werkreihe CASES hat Sinje Dillenkofer ein Thema in Angriff genommen, das auf den ersten Anschein lapidar anmuten könnte. Denn was ist schon Interessantes dran an alten Aufbewahrungsboxen, an abgeschabten Behältnissen und Kassetten, könnte man sich fragen, noch dazu, wenn sie leer sind. Die Künstlerin führt uns jedoch mit diesen Sujets in einen eigenen Kosmos, der unerwartet und überraschend im Stande ist, eine Unzahl von Geschichten zu erzählen, die von kulturellen Wertigkeiten, von Geschlechterverhältnissen, von gesellschaftlichen Gepflogenheiten, von Schönheit und Gewalt, von Zeit und letztendlich auch von Leben und Tod handeln. Dabei lenkt sie subtil unsere Aufmerksamkeit auf Formen, Farben und Materialien, konfrontiert uns mit Momenten zwischen konkret Lesbarem und Abstraktem, involviert uns in ein Spiel der Wahrnehmung, bei dem wir erkennen, zugleich rätseln und aufgefordert werden, die Leerstellen, mit denen sie hintergründig arbeitet, mit unserer eigenen Imagination zu füllen und stellt damit die Frage, wie wir Fotografien an sich lesen und interpretieren.

Im Oeuvre von Sinje Dillenkofer tauchen erstmals 1994 in dem Zyklus „Leben Essen“ Besteckkästen auf. Es handelt sich dabei um rechteckige Boxen, die geöffnet sind und uns ihr in Falten gelegtes, seidig schimmerndes Inneres zeigen. In den Deckeln der aufgeklappten Schachteln hat die Künstlerin runde Häufchen aus Sand, Erde und Steinen drapiert und macht dadurch eine weitere Ebene der Lesbarkeit auf, als würde sie Gewichte in eine Waagschale legen. Natur gegen Zivilisation, Haltbarkeit gegen Vergänglichkeit oder Naturalwert gegen Geldwert. Solch ein subtiles Verweissystem ist grundsätzlich kennzeichnend für Dillenkofers Arbeitsmethode. Zudem präsentiert sie ihre Fotografien oft in dreidimensionalen Objektkästen, die die Illusion des Körperhaften befördern. Seit 1999/2000 tritt die Auseinandersetzung mit Aufbewahrungskästen definitiv in den Vordergrund ihres künstlerischen Interesses. Zunächst entsteht eine umfangreiche Serie von Besteckkästen, die sie in ihrem gefüllten Zustand wiedergibt, bevor sie sich den CASES zuwendet, die eine ungeahnte Fülle an formalen und inhaltlichen Zugriffsmöglichkeiten bieten, mit denen sie an frühere Arbeiten und ihre Untersuchungen von Gesellschaftsstrukturen anknüpft.

Im Gegensatz zu den vorangegangenen Werkserien zeigen die CASES ausschließlich Behältnisse ohne Inhalt, wodurch sie vieldeutiger und geheimnisvoller werden. Auch beschränkt sich Sinje Dillenkofer nicht mehr auf Besteckkästen, sondern spürt dem Innenleben von unterschiedlichsten Futteralen, Schatullen und Etuis nach, die sie in Museen und Archiven findet. Damit eröffnet sie ein weiteres Assoziationsfeld, das zu grundsätzlichen Fragen von Archivieren, Sammeln und Ordnen führt, ebenso wie zu der Frage, was wertvoll genug ist, um aufbewahrt zu werden und aus welchen Gründen. Da jedoch nur die Untertitel Aufschluss über den realen Gebrauch der verschiedenen CASES geben können, präsentiert uns die Künstlerin subtil eine rätselhafte, zeichenhafte Farb- und Formenwelt, die malerisch und grafisch anmutet und die Phantasie beflügelt. Besonders die Innenseiten der Deckel, die sie oftmals mit der Ansicht des dazugehörigen Bodens zu Bilddiptychen kombiniert, entbehren mit ihren Druckstellen und Abschabungen jeglichen erkennbaren Dingzusammenhangs. Wir sehen tektonische, geometrische Formen, die in die Tiefe gestaffelt sind und Löcher oder Schlitze in die Oberflächen gefräst haben. Wir sind geneigt, in manchen Bildern stilllebenartige Arrangements zu entdecken, oder meinen, in Raster- und Punktesystemen Werke der Minimal Art vor uns zu haben. Mitunter begeben wir uns auch auf die Suche, die einzelnen Elemente wie in einem Ausschneidebogen einander zuzuordnen. Und immer wieder treffen wir auf weich fallende Stofflandschaften, die in ihren organischen Strukturen an Haut erinnern. Johannes Meinhardt ist in seinem Text „Haut und Höhlung“ ausführlich auf die libidinösen Assoziationen des zu Sehenden mit dem Körper und seinen Öffnungen eingegangen und verweist dabei auch auf den Zusammenhang zur Fotografie: „Diese sichtbaren oder durch Spalten indizierten Hohlräume sind eigentümliche Zeichen; Zeichen in dem starken Sinne, indem sie das bezeichnen und darüber hinaus sogar sichtbar machen, was abwesend oder nicht sichtbar ist: den seinen Schutzraum ausfüllenden Gegenstand oder den organischen Hohlraum. (…) Auch ein Foto ist (…) eine Art Abdruck oder Art Abklatsch der sichtbaren Haut der Dinge.“1 Gebrauchs- und Druckspuren verlebendigen die Texturen, sodass einmal mehr der Eindruck des Malerischen entsteht. Obwohl Dillenkofer sachlich, ja dokumentarisch fotografiert und ihre Sujets maßstabgetreu in Szene setzt, bleiben sie in einem Wahrnehmungsraum von Mehrdeutigkeiten hängen. Gerade die Ausreizung der Grenze zwischen malerischer und fotografischer Lesbarkeit ist durchaus intendiert, um die Gegenstände der Abbildungen in einem neuen, konzeptuellen Kontext lesbar zu machen. So eröffnet die Künstlerin ein diffiziles Spiel zwischen subjektiven und objektiven Wahrnehmungsmustern, wie sie traditionell von Malerei und Fotografie vertreten werden. Dass sich die Genres längst vermischt haben und in einem ständigen Austausch stehen, zeigt vor allem die zeitgenössische Malerei, deren Brisanz meist auf fotografischen Vorlagen beruht. Die Konkurrenz zwischen Malerei und Fotografie ist so alt wie das Medium der Fotografie. Werden die Vorzeichen jedoch heute getauscht, so tragen sie alle Wahrnehmungsraster des jeweils anderen Mediums in sich und das ist das Spannende, wie Sinje Dillenkofer unvermutet malerische Komponenten und deren Interpretationskategorien in ihre Fotografien einschleust. Wie so oft in ihrem Werk fallen fotografiertes Objekt und Bild in eins. Einige Werke sind verglast, sodass sie wie Vitrinen wirken, die Distanz zum Betrachter herstellen, andere hingegen behaupten ihre unmittelbare Präsenz mit extrem matten, technisch ungeschützten Oberflächen, die zeichenhaft und verletzbar wie eine Haut oder Membran wirken und den Betrachter in ihren Bildraum saugen.

Sinje Dillenkofer erstellt mit ihren CASES ein eigenes Ordnungsprinzip, das auf Leere und Abwesenheit verweist und dennoch intensiv von Anwesenheit erzählt. Auch wenn die materiellen Gegenstände, die ihre Konturen in den für sie entworfenen Behältnissen hinterlassen haben, nicht zu sehen sind, so sind sie dennoch gegenwärtig. Denn sobald wir die Informationen zu den einzelnen Fotoobjekten lesen, eröffnet sich eine andere Welt, die hinter der visuellen Oberfläche der Fotografien liegt und die uns in Geschichte und Geschichten eintauchen lässt. Kaufen wir heute einen Akkubohrer, ein Handy, Kosmetikartikel oder Schmuck, so sind wir es gewohnt, dass diese Waren in Koffern, Schachteln oder Schatullen verpackt sind und die einzelnen Teile in genormten, passgerechten Formen liegen. Folgt man Dillenkofers Recherchen, so hat dieses Verpackungssystem eine lange Tradition. Da gibt es sicherlich zunächst den praktischen Aspekt, nämlich Gebrauchsgegenstände und Preziosen für den Transport zu schützen und bei mehrteiligen Objekten die Einzelteile nicht zu verlieren. Die Boxen sind nach rationalen Maßstäben und Platz sparend konstruiert. Handelt es sich um Behältnisse für technische Geräte, die Massenware sind wie etwa die verschiedenen um 1950 gefertigten Bügelmessschrauben, die die Künstlerin in der Historischen Sammlung der ZF Friedrichshafen AG fotografierte, so wurde mit der Innenausstattung kein allzu großer Aufwand getrieben. Betrachtet man jedoch Boxen, die als Geschenke weitergegeben wurden wie etwa das Behältnis für Vorderladepistolen Kaiser Josef I, 1845, oder der Musikinstrumentenkoffer für ein Zarenhorn von Zar Alexander III, 1884, so besticht die leuchtende Farbigkeit des Grundes, der die darauf liegenden Dinge wohl bestens zur Geltung brachte. Damit wird auf einer ästhetischen Ebene auf deren Wert verwiesen, wie wir es von Schmuckschatullen mit ihren kostbar wirkenden Samt- und Seidenstoffen kennen. Man kann sich die Wirkung gut vorstellen, die sich beispielsweise beim Öffnen der Etuis für Prunkgefäße König Augusts des Starken, um 1719, einstellte, wenn man die wertvollen, vermutlich funkelnden Preziosen vor rotem und weißem Seidenhintergrund sah. Wurden für diese Objekte Etuis angefertigt, die bereits von außen auf die Form des Inhalts schließen lassen, so ist ansonsten die gängige Praxis eine rechteckige oder quadratische Box, deren Äußeres keinen Rückschluss auf das Innenleben zulässt.

In den CASES hinterfragt Sinje Dillenkofer stets auch Schönheitsaspekte und geht der Frage nach, was eine Gesellschaft für wertvoll erachtet, Themen, die schon in früheren Arbeiten beleuchtet wurden. Etwa wenn sie in den Serien „Substitute I“ (1990) und „Substitute II“ (1990) Hundeporträts, Hundeurnen, Schönheitspokale und Medaillen von Hundeschönheitswettbewerben einander gegenüberstellt oder in der Fotoreihe „Die letzten Könige von Paris“ (1995) Protagonisten der Haute Couture-Branche mit Herrschaftsinsignien wiedergibt. Die Inszenierungen zeigen, dass Schönheit auch als Mittel zur Macht eingesetzt werden kann und spiegeln Dillenkofers Interesse an gesellschaftlichen Hierarchien und ihren Beziehungsgeflechten wider. So schreibt Meinhardt etwa über die Serie der „Besteckkästen“ (1999/2000), in denen die Essgeräte in Reih und Glied sortiert sind: „Einer kritisch-historischen Lektüre (…) würde auffallen, dass diese Besteckkästen in ihrer eigenen Geschichte ebenso wie in ihrem gesellschaftlich determinierten Ausdruck einer absolutistischen Ästhetik angehören: einer Ästhetik der Normierung der Individuen und der Unterwerfung dieser unter eine absolute Verwaltung, ein vorgegebenes staatliches Maßsystem.“2 Und natürlich stellt sich auch angesichts der CASES die Überlegung ein, ob sie nun alle normiert sind, oder ob es sich wie bei dem Behältnis für die Entenpresse der Kaiserin Elisabeth von Österreich, Ende 19. Jh., möglicherweise um eine luxuriöse Sonderanfertigung handelt. Unweigerlich begibt man sich bei der Betrachtung der rätselhaften Fotografien auch auf die Suche nach Unterschieden in der Form der Aufbewahrung von Utensilien, die männlichen oder weiblichen Lebensbereichen zuzuordnen sind. Für Sinje Dillenkofer stellen die CASES in multiperspektivischer Hinsicht ein eigenwilliges Instrument dar, um über Zeit, Kultur und Gesellschaft, ja auch über unseren Umgang mit Leben und Tod nachzudenken: „Sind die Behältnisse und Objekte der CASES Dokument und Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach ewigem Leben, ewiger Schönheit, oder ein Versuch darüber Kontrolle zu erlangen?“3 fragt sie.

Einen neuen Aspekt fügt die Künstlerin ihrer Werkreihe mit drei jüngst entstandenen, bis zu 980 cm langen Leporellos hinzu, die, wie man den Titeln4 entnehmen kann, Museumsbesuche in Friedrichshafen dokumentieren. Indem sie die Museen durchwanderte und nach einer bestimmten Schrittzahl jeweils ein Foto von der Decke und eines vom Boden machte, reduziert sie den architektonischen Raum auf ein Behältnis, von dem wir, analog zu den fotografierten Boxen nur Boden und Deckel zu sehen bekommen. Sie selbst ist darin nicht zusehen und das was die einzelnen Institutionen mit ihren Sammlungsschwerpunkten und archivarischen Richtlinien auszeichnet, wird in diesen abstrakt anmutenden Diagrammen nicht gezeigt. Vielmehr erzählen sie von der Anwesenheit der Fotografin, ihrer Bewegung durch die Museumsboxen und stehen dem Betrachter als Koordinaten für seinen eigenen imaginären Besuch zur Verfügung.

Sinje Dillenkofer stellt uns in ihrem Werk Denk- und Wahrnehmungsmodelle unter den besonderen Bedingungen der Fotografie zur Verfügung, wobei sie den Dokumentarcharakter der fotografischen Wiedergabe gegen Fiktion und Vorstellung gezielt ausspielt. Was die CASES so reizvoll und ambivalent macht, ist das Moment, dass wir zwar sehen, jedoch das Gesehene nie richtig einzuordnen vermögen, dass in der spürbaren Kluft zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ein drittes, imaginäres Element entsteht, das die eigentliche Essenz der Bilder ausmacht.

1 Johannes Meinhardt, „Haut und Höhlung. Sinje Dillenkofers Fotos von Oberflächen, Aushöhlungen und Spalten“, in: „Sinje Dillenkofer. Fotoobjekte“, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen 2002, S. 3–10, S. 4f.
2 Johannes Meinhardt, „Präsentation und Repräsentation: Sinje Dillenkofers ‚Besteckkästen’“, in: „Sinje Dillenkofer: Photoobjekte“, Edition Kabinett, Stuttgart 2000, S. 3–9, S. 4.
3 Sinje Dillenkofer in einer e-mail an Beate Ermacora, 5. März 2010.
4 Titel der Leporellos: VISITE 61×7 Schulmuseum, VISITE 88×15 Zeppelin Museum, VISITE 91×11 Dornier Museum, alle entstanden 2010.
Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.