Emma Adler, 2021
Emma Adler ist 2021 Stipendiatin der ZF Kunststiftung
Der Katalog Emma Adler: SIMULATOR [SIC!]NESS ist erschienen!
geboren 1980 in Besch, lebt und arbeitet in Berlin
Emma Adler, geboren in Besch, hat in Saarbrücken, Barcelona und Berlin Freie Kunst studiert. An der Kunsthochschule Berlin Weißensee war sie bis 2015 Meisterschülerin bei Else Gabriel und erhielt im Anschluss das Elsa Neumann Stipendium des Landes Berlin. Ihre Abschlussarbeit EEEEF#GE wurde mehrfach ausgezeichnet und in der Ausstellung Rundgang 50Hertz in Kooperation mit dem Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin (2017) präsentiert.
In ihren Projekten, die neben der Verschachtelung von Räumen, Realitäten und Identitäten, um den Themenkomplex Fake kreisen, provoziert Emma Adler gewohnte Betrachtungsweisen und hinterfragt vermeintliche Gewissheiten zum Verhältnis von Realität und medialer Repräsentation. Der Schwerpunkt ihrer raumgreifenden, multimedialen Installationen liegt seit 2017 auf Verschwörungstheorien und der damit verbundenen Frage nach verschiedenen Realitätsebenen.
Ihre Arbeiten waren in zahlreichen nationalen und internationalen Gruppen- & Einzelausstellungen vertreten, u.a. im Arp Museum, Rolandseck, im Neuen Kunstverein Gießen, der Kunstverein Bremerhaven, dem Kunsthaus Dahlem, in Kopenhagen und New York (Peninsula Gallery), wo sie 2017 als Artist in Residence ein halbes Jahr verbrachte, gefördert durch das Künstlerhaus Schloss Balmoral. Im gleichen Jahr erhielt sie das Bernhard-Heiliger-Stipendium.
Ihre Einzelausstellungen SUPERFLARE im Neuen Kunstverein Gießen (2019) sowie REALITY SHOW im Kunsthaus Dahlem (2018) sind Teil einer Reihe komplexer Installationen, die um Verschwörungstheorien kreist und in unterschiedlichen Ausstellungsformaten fortgeführt wird. So entwickelt die Künstlerin aktuell ein Projekt, das Merkmale und Mechanismen konspirationistischer Konzepte im postfaktischen Zeitalter – zwischen Pandemie & Populismus – von verschiedenen Seiten beleuchtet.
Emma Adler ist Teil des Künstlerkollektivs SORGEN (International), dessen Projekte u.a im Basis Projektraum, Frankfurt und dem KINDL Museum für zeitgenössische Kunst ausgestellt wurden.
Die Realität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Milena Mercer
1. Am Anfang war die Realität …
Das Suchen und Finden neuer künstlerischer Positionen passiert klassischerweise in Ausstellungskontexten, beispielsweise in Galerien, auf Messen, in Ateliers oder auf Biennalen. Emma Adlers Kunst begegnete mir zum ersten Mal als ungefähr kreditkartengroße Installationsansicht auf einem Computerbildschirm. Trotzdem reichte der kurze Eindruck aus, um eine exzessive Internetrecherche zu triggern. Mein Interesse wurde also nicht von dem Original, dem Kunstwerk selbst geweckt, sondern von einer doppelten medialen Repräsentation, nämlich dem Foto einer Ausstellung, das ich auf einem Bildschirm betrachtete. Diese Geschichte bietet einen wunderbaren Einstieg in Adlers Œuvre, da sie das Metathema ihrer künstlerischen Auseinandersetzungen umreißt: Die komplexen Beziehungen verschiedener Realitätsebenen, die durch die Digitalisierung und Technisierung unserer Alltagswelt immer verwobener werden.
Das Internet bietet viele Nutzungsmöglichkeiten, doch als Rechercheinstrument ist es im Alltag unersetzlich geworden. Man kann unmittelbar, an beinahe jedem Ort, nach Informationen suchen, weltweit kommunizieren und Nachrichten in Echtzeit empfangen. Aufgrund dieser Eigenschaften knüpften sich mit der Popularisierung des World Wide Web viele Hoffnungen an die neue Technologie. Genau wie beim Fernseher, waren die Erfinder des Internets davon überzeugt, dass mit diesem Medium endlich ein Werkzeug gefunden sei, um der breiten Masse Bildung zugänglich zu machen. Der Traum der Aufklärung, dass sich jede und jeder aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien könne, schien zum Greifen nahe. Obwohl der Fortschrittsglaube der Moderne von der postmodernen Kritik ausgiebig dekonstruiert wurde, hält sich diese in Technologien gesetzte Hoffnung besonders hartnäckig. So auch zu Beginn der 2000er-Jahre. In einer im Dezember 1999 erschienenen Ausgabe des Yahoo! Internet Life-Magazins heißt es, dass das Internet durch die ständige Überprüfbarkeit von Aussagen dabei helfen werde, Politiker:innen zur Ehrlichkeit zu verpflichten. Tim Berners-Lee, der als Begründer des World Wide Web gilt, behauptete sogar: „I’ve always viewed the web as a tool for democracy and peace.“1 Diese uneingeschränkt positiven Bewertungen des World Wide Web und die damit verbundenen Prophezeiungen haben sich nicht erfüllt. Trotz der schier unendlichen Fülle an verfügbaren Informationen, Daten und Fakten hat das Internet nicht unbedingt zu einer Aufklärung beigetragen, sondern vielmehr die schon immer vorhandenen postfaktischen Tendenzen gefühlter Wahrheiten verstärkt. Die Pluralisierung von Weltsichten und Meinungen und die Algorithmen der Sozialen Medien verstärken in ihrer ständigen Bestätigung die eigene Denkweise und suggerieren zugleich, diese würde von vielen Anderen geteilt. Dabei entstehen so viele verschiedene Versionen von Wahrheit, wie es Menschen gibt, die nach ihr suchen.
2. SIMULATOR [SIC!]NESS
Emma Adlers Œuvre arbeitet diesen wunden Punkt unserer Gegenwart heraus. Die Ausstellung SIMULATOR [SIC!]NESS beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien und ihrer Verbreitung im Internet. „Simulator Sickness“ (dt. Simulatorkrankheit) bezeichnet ein Gefühl der Übelkeit, das in Flugsimulatoren oder bei längerem Aufenthalt in virtuellen Realitäten auftreten kann, wenn die Wahrnehmung der Augen und die des Gleichgewichtsorgans im Ohr im Sinneskonflikt stehen.2 Die Schreibweise bedient sich des [sic!], das bei Zitaten als redaktioneller Hinweis auf einen Fehler oder eine Fehlinformation im ursprünglichen Text genutzt wird. In Computersprachen kann es innerhalb eines Kommentars benutzt werden, der aber nur für die Leser:innen des Quelltexts sichtbar ist. So entsteht bereits durch den Titel ein komplexes Geflecht an Verweisen, die auf verschiedene Arten der Täuschung, des Irrtums und der Illusion anspielen. Dabei steht unsere Wahrnehmung als Grundlage für Erkenntnisse im Zentrum der Auseinandersetzung.
Beim Betreten des Ausstellungsraums treffen die Besucher:innen zunächst auf einen grauen Apparat, dessen erfundener Markenname SIQ Games auf den Ausstellungstitel referiert. Retro-futuristisch anmutend fordert uns das Arcade-Game dazu auf, einen von vier Spielern auszuwählen. Als grün flackernde Umrisse erscheinen vier Conterfeits, die, je nachdem wie gut man sich in der Welt der Verschwörungstheoretiker:innen auskennt, identifiziert werden können – oder eben auch nicht. Es handelt sich bei einem der Spieler beispielweise um Alex Jones, der das rechtsradikale Internetportal Infowars betreibt. Ein weiterer ist Ken Jebsen, der mit seinem Sender Ken FM vor allem im deutschsprachigen Raum krude Verschwörungstheorien verbreitet. Doch Adler beschäftigt sich in der gesamten Ausstellung nicht weiter mit den Erzählungen, die diese Personen verbreiten, noch versucht sie ihnen gar am Ende noch etwas entgegenzusetzen. Sie stellt uns keine weitere, vermeintlich „richtige“ Weltsicht vor, sondern analysiert und dekonstruiert unsere Gegenwart mit den Mitteln der Kunst: Vier Porträts von Akteuren der Verschwörungsszene werden mithilfe einer Maschine, die eigentlich zum Kalibrieren von Filmen benutzt wird, in grün flackernde Umrisse übersetzt. Die reduzierten Gesichter werden so nicht nur sich, sondern auch der Figur des Jokers ähnlicher, die einige der auszuwählenden Spieler öffentlich für sich in Anspruch genommen haben. Adler kreiert mit ihrer Maschine eine Art Archetypus des Internet-Schurken. Gleichzeitig werden die vier Männer ihrer Symbole und ihres Habitus beraubt, mit denen sie sonst versuchen, ihr Publikum zu überzeugen. Statt von ihnen in den Bann gezogen zu werden, baut die Reduktion eine Distanz auf, die Raum für kritische Betrachtung lässt. Obwohl der Gaming-Apparat der erste seiner Art mit Touchscreen war, bleibt das Herumdrücken beim Auswählen eines Spielers folgenlos – eine weitere Täuschung, die Anlass dazu bietet, die eigenen Annahmen und Wahrnehmungen zu überprüfen.
Beim Betreten des großen Raums der Ausstellung trifft man auf ein dystopisches Szenario: Ein Bauzaun, um den sich ein gesteppter Stoff rankt, steht quer; in der Ecke hechelt hektisch ein Schlauch des gleichen Stoffes und auf einem Sandhaufen liegt ein lackierter grünviolett-changierender Stuhl. Er erinnert an einen Rennfahrersitz, aber auch an einen Gaming-Chair, der von Online-Computer-Spieler:innen und einem Youtube-Content-Produzenten namens Oli, auf den Adler bei ihrer Recherche zur aktuellen Verschwörungsszene stieß, benutzt wird. Er ist ein weiterer Spieler, der im oben beschriebenen SIQ Game auftaucht. Der Stuhl erscheint unwirklich, seltsam, lässt sich weder in seiner Herkunft noch in seiner Funktion eindeutig zuordnen. Dieser Eindruck entsteht, weil er die Nachbildung eines Stuhles aus PU-Schaum ist, der in seiner Form reduziert und durch die andere Materialität verfremdet wurde. Die Zeichen der Herstellerfirma wurden genauso entfernt wie Details der Verarbeitung. Er sieht aus wie gegossen. Jean Baudrillard diagnostizierte in seiner Simulationstheorie einen gesellschaftlichen Zustand, in dem sich die Zeichen zunehmend von ihrem Bezeichneten gelöst haben werden und so „referenzlos“ geworden sind.3 Konsumgüter existieren dann nicht mehr primär als Gegenstände des Gebrauchs, sondern werden in ihrer ideellen Dimension als Zeichen für einen bestimmten Lebensstil konsumiert. Demonstrierten die Gamer noch mittels des Stuhls, dass sie genauso wie Profi-Rennfahrer Hochleistungssport betreiben, nutzen ihn Webvideoproduzenten und Verschwörungs-Influencer als Zeichen ihres Fleißes. Da sie für ihr Publikum den ganzen Tag vor dem PC sitzen, recherchieren, kommentieren und Videos schneiden, ist ein solch bequemer Thron vonnöten. Er gehört zur Rüstung eines hypermännlichen Internet-Warriors. Durch die Reduktion und Dekontextualisierung dieses Konsumguts macht sie seine ideelle Funktion sichtbar. Von ihrer Recherchereise durchs Internet hat Adler noch mehr Versatzstücke mitgebracht. Auf einem Bauzaunfuß funkelt das Modell einer Mittelohrschnecke, das mit dem gleichen Flip-Flop-Lack überzogen ist wie der Stuhl. Dieses Organ des Gleichgewichtssinns bezieht sich nicht nur auf den Ausstellungstitel, sondern ist das Symbol des letzten Spielers des Quartetts: Bodo Schiffmann. Er ist das Gesicht der Querdenken-Bewegung in Deutschland und als Arzt auf das Phänomen des Schwindels spezialisiert. Zur Verbreitung seiner Ansichten nutzte er zu Anfang den Kanal seiner medizinischen Praxis, die sich ironischerweise Schwindelambulanz nennt.
Der große Ausstellungsraum ist auf zwei Seiten von einer Betonwand eingeschlossen. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass alle Betonfelder exakt gleich aussehen. Sie sind identische Kopien. Gibt es ein Original? Auf einer optischen Spurensuche erinnert die Wand an Sichtbeton, den man von Bunkeranlagen oder temporären Architekturen im urbanen Raum kennt. Aber in diesem Umfeld kann nicht jeder Stein gleich aussehen, es sei denn, es ist ein Fehler in der Matrix. Die Erscheinung von Beton als bildliche Reproduktion kennt man wiederum von Küchen in Betonoptik oder von Beton imitierenden PVC-Belägen. Die naheliegendste Referenz der gestapelten, immer gleichen und leicht verfallenen Betonplatten sind Wände in Computerspielen, in denen Programme mittels digitaler Stempel im Nu ein ganzes Gebäude hochziehen. Wäre dann der programmierte Beton, der ja selbst eine Kopie von Sichtbeton ist, das Original? Und ist das Original die fertige Visualisierung des Betons oder sind es die Zahlen des programmierten Stempels? Schon in seinem 1935 erschienenen Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit arbeitete sich Walter Benjamin an der problematischen Dialektik von Original und Kopie, Aura und Zerstörung, Dauer und Flüchtigkeit ab. Er kommt zu dem Schluss, dass schon bei einer Fotografie Bestimmungsversuche zwecklos sind. Ein analoges Foto hat schließlich ein Negativ, das nicht das fertige Produkt ist, aber von dem endlos viele Abzüge gemacht werden können. Angewendet auf unsere Gegenwart, lässt sich der Verlust des originalen Kunstwerks mit dem Verlust einer originären Realität gleichsetzen. Die digitalen Welten und die analoge Realität sind auf unzähligen Ebenen untrennbar miteinander verwoben, wobei jeder einzelne Mensch in seinem ganz eigenen Gemenge lebt.
Eine besondere Qualität von Adlers Arbeiten ist eben, dass sie ganz zeitgemäß keine Dialektik von Original und Kopie, von analog und digital, von Wahrheit und Lüge beschreiben, sondern das ganze (Beton-)Grau dazwischen. Im Gegensatz zu den Verschwörungstheoretikern geht es ihr nicht um einfache Antworten auf komplexe Fragen. Die Widersprüche der Gegenwart werden in kein singuläres Narrativ eingeebnet, sondern herausgestellt – beispielsweise durch eine „gefakte“ Betonwand, die eine Rückübersetzung aus einer virtuellen Welt in den analogen Ausstellungsraum ist.
3. Ein kritisches Fazit
Walter Benjamin stellte für seine Zeit, besonders in Bezug auf den Film, die These auf, dass die Menschen eine neue Wahrnehmung lernen müssten. Das neue Medium gilt es zu lesen und zu verstehen. Wir besitzen heute fast selbstverständlich die mediale Kompetenz Filme zu lesen, doch für die Neuen Medien, das Internet, Augmented und Virtual Reality fehlt sie noch. Adlers Arbeiten verraten uns etwas über unsere Gegenwart. Die Dekonstruktion, Dekontextualisierung, mediale Übersetzung, Verfremdung, Reduktion und die digitalen Kulturtechniken wie das Copy-Paste lehren uns eine neue Wahrnehmung, die es braucht, um mit Benjamin der neuen Geschwindigkeit und Beschleunigung unseres Zeitalters gewachsen zu sein.
Das Verständnis der neuen Technologien in ihren Meta-Sprachen und der Geisteshaltungen, von denen sie durchdrungen sind, bedarf eines aufgeklärten Menschen mit technologischer Bildung. Gerade hier kann die Kunst einen wichtigen Beitrag leisten. Denn auch wenn wir in einer Welt leben, in der Maschinen und Technologien immer umfassender menschliche Arbeit ersetzen, bleibt das kritische Denken weiterhin die Domäne des Menschen.