Nina Rike Springer, 2018
Katalogpräsentation: Nina Rike Springer. I believe I can fly
Nina Rike Springer. I believe I can fly
Nina Rike Springer öffnet das Turmatelier der ZF Kunststiftung beim 33. Kunst-Freitag
Die Wiener Künstlerin Nina Rike Springer zieht 2018 ins Turmatelier der ZF Kunststiftung
geboren 1976 in Klagenfurt; lebt und arbeitet in Wien
GRASEN. SCHWEBEN. FLIEGEN. Existenzielles und Essentielles in den Arbeiten von Nina Rike Springer
Ralf Christofori
Zwei Kühe stehen auf einer Weide. Sagt die eine zur anderen: „Wie denkst du über Rinderwahnsinn?“ „Was kümmert mich das“, sagt die andere. „Ich bin ein Hubschrauber.“ — Es mag befremdlich anmuten, einen Text über Kunst mit einem Witz zu beginnen. Aber der Witz hat es in sich. Er stammt aus dem ebenso amüsanten wie tiefgründigen Buch Platon und Schnabeltier gehen in eine Bar von Thomas Cathcart und Daniel Klein. ¹ Beide haben in Harvard Philosophie studiert. Und gemeinsam kommen sie zu der Erkenntnis, dass man über Humor die Philosophie mitunter besser versteht als durch angestrengtes Denken. — So steht der Witz mit den Kühen im Kapitel über den Existenzialismus und illustriert eine kapitale Maxime Jean-Paul Sartres – die da lautet: „Die Existenz geht der Essenz voraus.“ Demzufolge gibt es für uns Menschen keine wesenhafte Bestimmung, die wir einer wie auch immer gearteten ontologischen oder metaphysischen Essenz verdanken, sondern: „Wir haben keine Bestimmung, uns steht es frei, uns neu zu erfinden.“ ² — Mit einfachen Antworten geben sich die beiden Philosophen erwartungsgemäß nicht zufrieden. Vordergründig legt die Antwort der Kuh die Schlussfolgerung nahe, sie sei bereits wahnsinnig geworden. Aber vielleicht ist sie ja gar nicht wahnsinnig, sondern genial. Existenzialistisch gesehen, hat sie ihre mutmaßlich wesenhafte Bestimmung abgeschüttelt und sich einfach neu erfunden. Empirisch gesehen, ist das zwar eher unwahrscheinlich, aber doch möglich. Sprachphilosophisch wäre zu beweisen, dass die Kuh den Begriff „Hubschrauber“ mit Sinngehalt füllen kann. Was zumindest erkenntnistheoretisch voraussetzen würde, dass sie weiß, was ein Hubschrauber ist. Haben die beiden Kühe überhaupt ein gemeinsames Verständnis von Realität? Oder wir und die Kuh? Können wir den Realitätsgehalt ihrer Aussage auf der Grundlage unserer Auffassung von Realität überhaupt verifizieren? Ein Irrtum wäre schließlich auf beiden Seiten denkbar. Und so geht das weiter, bis man eschatologisch betrachtet irgendwann bei der Frage nach den letzten Dingen endet. — So ähnlich verhält es sich, wenn man sich die künstlerischen Arbeiten von Nina Rike Springer anschaut. Zumindest ist der Weg von den Kühen zum Grasen, wie eine ihrer frühen Animationen von 2006 heißt, nicht weit. Auf einem Küchenstuhl steht ein verzinkter Übertopf, aus dem eine eher traurige Grünlilie wächst. Zwischen den spärlichen Blättern tut sich plötzlich was: Ein Grasbüschel bahnt sich den Weg, raus aus dem Topf, über den Stuhl hinunter auf den Boden. An der Wand entlang nimmt es kurz das Fenster ins Visier, also hinauf zur Fensterbank. Die Fensterflügel öffnen sich und nach einer guten halben Minute entschwindet das Grasbüschel ins Freie. In der Animation Grasen II von 2008 schlüpft ein anderes Grasbüschel ebenfalls aus einem Topf, überwältigt einen Sessel, schnüffelt auf dem Boden herum, bevor es wieder in dem Blumentopf verschwindet. Die absurd-komische Szene unterlegt Nina Rike Springer mit spannungsgeladener Musik und erzeugt so eine Dramatik, von der das Geschehen im Grunde genommen weit entfernt ist.
Die Filme dauern nicht länger als ein gespielter Witz, aber in beiden Fällen wirkt die Pointe lange nach. Weil dem Humor in Nina Rike Springers Arbeiten immer auch ein denkwürdiger Tiefgang innewohnt. Wir erinnern uns an die Kuh, die das ständige Grasen und Wiederkäuen buchstäblich satt hat. Und wir beobachten das animierte Gras in Nina Rike Springers Stop-Motion-Film, das sozusagen seine in die Welt geworfene Existenz selbst in die Hand nimmt und eine neue Bestimmung sucht: Das Gras ist nicht einfach nur Gras. Sondern das Gras tut etwas: Es grast. Das macht einen großen Unterschied, wenn man Martin Heidegger, jenem anderen großen Existenzphilosophen, glaubt: „Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.“ ³ Gemessen am Ernst der Lage muss man also doch zumindest in Betracht ziehen, dass selbst das Gras dazu in der Lage sein könnte zu entscheiden, es selbst oder nicht es selbst zu sein. — Durch Verfremdung und Entfremdung würfelt Nina Rike Springer die Ordnung der Dinge mächtig durcheinander. Aber was ist schon daran fremd, wenn man eine Couch mitsamt ihren Sitzkissen zum Tanzen bringt (Couch Polka, 2006) oder einige Petits Fours einen Mehlspeis Tango (2011) in Formation aufs Parkett zaubern lässt? Es ist eine Frage der Imagination und Intuition, wie viel Spielraum man den Dingen zugesteht und vor allem der Vorstellung, die wir von ihnen haben. — Dabei hat sich Nina Rike Springer in ihren Animationen und Tableaus mehr und mehr von den Dingen verabschiedet, um sich den Möglichkeiten und der Bestimmung ihrer Person als Mensch und Künstlerin zu widmen. 2014 inszeniert sie sich selbst in der Fotoserie Schöne neue Welt als Triade, als Müde Heldin, als Salonfähige Einheit oder im Blindflug. Dafür erschafft sie virtuelle Bühnenräume, die von geometrischen Flächen geformt und deformiert werden. Ganz in Weiß mit einer seltsamen Badehaube auf dem Kopf, verkörpert die Künstlerin alle Rollen selbst. Die Figuren bleiben ebenso rätselhaft wie die Narration, die – vor allem in den Triptychen – zeitgleich an verschiedenen Orten stattfindet: absurd, fantastisch, surreal, nicht wirklich, aber durchaus möglich. — Genau daran knüpfen die drei jüngsten Animationen und eine fotografische Serie an, die allesamt 2018 entstanden sind. In dem kurzen Film Skills taucht sie wieder auf, die Künstlerin, diesmal mit gelber Badekappe, in mintgrünem Sweatshirt und blauer Jogginghose – farblich abgestimmt auf das reduzierte Arrangement des Szenenbildes und der Requisiten. Während die Berufswelt ihren qualifizierten Fachkräften alle möglichen Skills abverlangt und selbst die Jugend den „Skiller“ bewundernd ins Vokabular aufgenommen hat, verzichtet Nina Rike Springers Film gänzlich auf spektakuläre Gesten oder Fertigkeiten. Sie rutscht stehend von links ins Bild, geht in die Hocke, streckt zum Glockengeläut die Arme aus, verschwindet wieder. Sie schiebt einen gelben Quader in den Raum, rutscht hockend darauf von links nach rechts, nimmt den Quader mit und verschwindet. Einen kurzen Moment später läuft sie durchs Bild zurück. Während das Bild ausblendet, vernimmt man aus der Ferne ein Gewitter.
In Artificial schluckt die Künstlerin einen blauen Puschel, der einen Moment später gleich mehrfach aus dem Kopf wächst. Die Puschel verselbstständigen sich und tragen wie eine emsige Armada die Bestandteile einer geometrischen Komposition ab – bis nur noch eine weiße Fläche übrig bleibt. Es ist gewissermaßen die Umkehrung eines künstlerischen Prozesses, der nicht mit dem leeren Blatt beginnt, sondern damit endet. Auch daran ist nichts wirklich spektakulär – außer der Einspielung jenes berühmten Satzes, den Neil Armstrong beim Betreten der Mondoberfläche am 21. Juli 1969 zur Erde schickte: „That’s one small step for man, one giant leap for mankind.“ — So hoch hinaus will Nina Rike Springer nicht, schon gar nicht in die heroischen und weltbewegenden Dimensionen der Raumfahrt. Mag die Schwerelosigkeit in den Augen der Künstlerin unerreichbar erscheinen, so liegt der Traum vom Fliegen zumindest im Bereich des Möglichen. Seine Vorstufe findet er in der großformatigen digitalen Fotoarbeit Schwebeperformance. Den Schauplatz bildet einmal mehr – wie schon in der Fotoserie Schöne neue Welt – ein virtueller Bühnenraum, in dem farbige geometrische Formen wie Kulissen fungieren. Kleine Kreisflächen dienen den Figuren als Requisiten. Hinter einem neonrosa-farbigen Rechteck lugt die markante Badekappe der Künstlerin hervor, hinter einem weiteren Rechteck ihr gebeugter Rücken, und oben auf der linken Kulisse liegen die Körper der Künstlerin wie Wäschesäcke übereinander. Zwei Figuren scheinen eine Art Schwebebalken zu halten, auf dem allerdings niemand schwebt. In der Bildmitte hängt die Künstlerin waagrecht wie ein Wetterfähnchen an der Stange. — Wenn man so will, kann man diese Schwebeperformance als multiples Selbstporträt lesen, das das Wesen der agierenden Figur in der Schwebe lässt und stattdessen deren Bestimmung auf mehrere Zustände verteilt: als ein Ringen und Stemmen, Versuchen und Scheitern, das nicht zwingend zum Gelingen führt. Als Hilfsmittel entwirft Nina Rike Springer in der Serie Flugkörper traumhafte Fluganzüge, die in ihren ausladenden Formen und kräftigen Farben unweigerlich an Oskar Schlemmers Triadisches Ballett von 1922 erinnern. Die runden Tableaus bilden den Rahmen, eine rechteckige Farbfläche den jeweiligen Hintergrund, davor posiert die Künstlerin mit den unterschiedlichen Fluganzügen, die sie sich digital zurechtgeschneidert hat.
Ob es zum Fliegen reicht? In der Stop-Motion-Animation I Believe I Can Fly glaubt Nina Rike Springer ganz fest daran. Aber Fliegen, so ahnen wir, ist doch weitaus mühsamer als Schweben. Die Flugvorbereitung ist alles. Die Künstlerin macht sich zum Absprung bereit, die Hände simulieren die Justierung der Start- und Landeklappen, sie überprüft noch einmal die Funktion der Fahrwerke … und … Schnitt! In der nächsten Einstellung liegt die Künstlerin waagrecht auf einem nahezu unsichtbaren Sockel, mit ausgebreiteten Armen. Sie fliegt! Zu den luftigen Klängen des Donauwalzers von Johann Strauss. „Super!“, befindet die Künstlerin am Ende des Films und lässt augenzwinkernd die nichtvorhandenen Muskeln spielen. — Natürlich sagt uns der gesunde Menschenverstand, dass diese Fluganzüge mitsamt dem Menschen so ziemlich alles sein könnten – nur eben keine Flugkörper; und dass allein der Glaube an das Fliegen nicht reicht, um die Gesetze der Schwerkraft zu überwinden. Aber das haben wir ja auch von der Kuh gedacht, die meinte sie sei ein Hubschrauber. Existenzialistisch gesehen, hat Nina Rike Springer ihre mutmaßlich wesenhafte Bestimmung abgeschüttelt und sich als Flugkörper einfach neu erfunden. Empirisch gesehen, ist das zwar eher unwahrscheinlich, aber doch möglich. Was zumindest erkenntnistheoretisch voraussetzen würde, dass die Künstlerin weiß, wie man fliegt. Diskursiv wiederum könnte man sich fragen, ob ihre Wahrnehmung der Realität mit unserer kompatibel ist – und damit auch die Vorstellung vom Fliegen. Ein Irrtum wäre schließlich auf beiden Seiten denkbar. Und so weiter. — Über all das, was Philosophen, Physiker oder der gesunde Menschenverstand uns zu verstehen geben wollen, setzt sich Nina Rike Springer leichtfüßig hinweg. Das ist eine besondere Qualität ihrer künstlerischen Arbeiten. Was es dazu braucht, hat Robert Musil in seinem Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften kurz und prägnant erläutert: Er unterscheidet zwischen einem „Wirklichkeitssinn“, der in allem nur das erkennen mag, was wirklich da ist, und dem „Möglichkeitssinn“ als einer Fähigkeit, die Wirklichkeit immer wieder aufs Neue zu überschreiten. Der „Möglichkeitsmensch“, so Musil, gebe „den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung […], und er erweckt sie.“ ⁴ — Nina Rike Springer ist so ein „Möglichkeitsmensch“. Sie nimmt sich die Freiheit, sich ständig neu zu erfinden. Und sie appelliert an uns als Betrachter, die Wirklichkeit zu überschreiten, um dem „Möglichkeitssinn“ mehr Spielraum zu geben. Existenziell und Essentiell. Mit humoristischem Tiefgang. Grasend, schwebend, fliegend – und vor allem: auf ebenso verstörende wie betörende Weise animierend.