Stefan Burger, 2011

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geboren 1977 in Mühlheim, Schweiz; lebt und arbeitet in Zürich

 


Vita
1999 – 2003
Studium Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste
Preise und Stipendien (Auswahl)
2012
Follow Fluxus Scholarship, Wiesbaden
2011
Stipendium ZF Kunststiftung
2010
Preisträger der Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung
2008 – 2009
Swiss Art Award
2007
Arbeitsstipendium, Kunstfonds, Bonn
2003
Golden Ukiyo Camera Award, Budapest
Einzelausstellungen (Auswahl)
2015
Pivo Gallery, Sao Paolo
2013
Reizdarm streicheln, Kunsthalle Sankt Gallen
2012
18h00, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
2010
Unter den Umständen, Fotomuseum Winterthur
2009
Frischzelle_10, Kunstmuseum Stuttgart
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2015
this probably will not work, Lothringer13_halle, München
Zurich and elsewhere, Carlos/Ishikawa Gallery, London
Akakor, Galeria Baró, Sao Paolo
2014
Revelry, Kunsthalle Bern
2013
5th Moscow Biennale of Contemporary Art, Moscow State Exhibition Hall, Moskau
Pernice, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich
2012
30 Künstler / 30 Räume, Kunsthalle Nürnberg
Katalogtexte

18h00

Stefan Burger

Die Installation ›18h00‹ setzt, im Titel schon angedeutet, an dem Moment an, an dem die Ausstellung am schönsten sein wird: am Ende der Museumsöffnungszeiten, im Dunkeln des Grenzraums, mit sich und als einzigem Publikum einigen verirrten Kreuzspinnen allein. Die im hierarchischen Gedrängel um die idealen Futterplätze in Lichtnähe bis in den lichtarmen Grenzraum abgerutschten Spinnen werden auch dort nach längerem Ausharren und den Gesetzen des Zufalls nach, mal was Brauchbares, mal was Unbrauchbares in ihrem Netz vorfinden. Während Unbrauchbares ignoriert wird und in einer ausweglos verklebten Situation verendet, wird Brauchbares auf der Stelle in die Bewegungsunfähigkeit gewickelt und innerlich mit einem zersetzenden Sekret ausgestattet, welches die differenzierte Gestalt der einzelnen Organe des Gewickelten in einen universellen Nahrungsbrei verwandelt. Der so entstandene Nahrungsbrei wird von der Spinne mittels spezieller fiederartiger Borsten an der Mundöffnung und einer sogenannten ›Gaumenplatte‹ gefiltert, wobei durch deren feine Chitinschüppchen alle Partikel von über 1–3 Mikrometer Größe zurückbehalten und anschließend nach außen befördert werden. Dadurch gelangt nur flüssige Nahrung in den Mitteldarm, wo sie gespeichert und / oder resorbiert wird. Kreuzspinnen zerkau-en ihre Beute mit Hilfe der bezahnten Klauenfurcheränder der Cheliceren so stark, dass nur ein Klümpchen als Beuterest übrig bleibt.

Der verdaute Nahrungsbrei wird schlussendlich ausgeschieden und bildet einen schwarzen, präzise umrissenen Fleck von ca. 0,1 mm Durchmesser und bleibt, obwohl für das menschliche Auge gerade noch sichtbar, nach Wiedereröffnung der Ausstellung am folgenden Morgen von fast allen Ausstellungsbesuchern unbemerkt.

Auf den Aus- und Verwertungen sichtbarer und unsichtbarer Ausscheidungen sich berührender und überschneidender Systeme ist auch die Ausstellung ›18h00‹ gesockelt. Mit Seewind im Rücken, eine grenzwertige Ausstellung im Grenzraum zu realisieren, die mehrmalig widerfahrene Begegnung mit einer außerordentlichen Friedrichshafener Schaufenster-Vitrinen-Gestaltung und die Existenz der von damaligen Werkarbeitern zu Alltagsgegenständen wie Garderoben und Tischdecken umgenutzten Zeppelin-Bauteilen im Archiv des Zeppelin Museums, führten zu einer zu-nächst ausweglosen Verquickung fröhlicher Tatsachen, welche sich nur durch die Umsetzung der Ausstellung ›18h00‹ sinnlos weiter verquicken ließ.

Im Stil der literarischen Gattung des ›hysterischen Realismus‹ – auch ›verkrampfter Postmodernismus‹ genannt – wird der komplexe Sachverhalt, oben genannter in Beziehungen gebrachter Verwicklungen, in einer ebenso verwickelten Installation un/sichtbar gemacht.

Erfundene Protagonisten tauchen ebenso auf wie vollkommen Fehlende nie auftauchen werden, das Motiv ei-nes gemeinsam entworfenen Vorhabens geht nur deswegen verloren, um von jemand anderem (dem nie auftauchenden Fehlenden zum Beispiel) gefunden zu werden, der kostenlosen Rückerstattung großer sowie kleiner Gefühle wird Folge geleistet, die Ausstellung wird vom Bundesamt für Raumordnung und Bauwesen freundlich mit einem weißen Paar Damenstiefeln unterstützt (gekauft im Stiefelparadies Neuss), der Begriff des kleinsten gemeinsamen Nenners wird erörtert und in Form von tragbaren Skulpturen ausgeschieden, andere künstlerische Ausscheidungen wer-den auf ihre Wertlosigkeit hin in Abidjan überprüft und von Hannes Grassegger mit ausgedehntem Schweigen quittiert. Joachim Gauck steuert (privat) 100 g Freiheit bei, die jeweils zu 50 g in den weißen Damenstiefeln abgefüllt werden. Der Zeitwert abstrakter Kunst, die banale Handlung, frisch gekauften Lauch im heimischen Gemüseregal zu versorgen, sowie das Gedächtnis Christian Morgensterns werden zusammen amalgamisiert an eine Wand geklebt. Firmenhierarchien und Fußschmerzen, Prosecco-Wurststimmung und die Kritik der Kritik der Kritik eines Kinds werden schnörkellos, minimalistisch und voller Kompromisse in die Form einer romantischen Anti-Erzählung überführt.

 

4’33″‹ und ›18.00 Uhr‹
oder der Null- als Ausgangspunkt

Peter Révai

»Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen.«
John Cage in ›Vortrag über Nichts‹

I ERSTE BEGEGNUNG

In meiner Pariser Zeit am Musikforschungszentrum IRCAM hatte mich der japanische Komponist Joji Yuasa zu einem Festival mit dem Titel ›East meets West and West meets East‹ in die Cité internationale universitaire mitgenommen. Ein Roundtable mit namhaften europäischen und asiatischen Komponisten sollte die gegenseitigen Beeinflussungen ab-handeln. Was im Detail diskutiert wurde, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber umso mehr an das anschließende Konzert. Das berühmte Stück 4’33“ von John Cage aus dem Jahr 1952 war programmiert. Es hat im Musikbereich den Nimbus erreicht, der im Bereich der Literatur und des Theaters am ehesten mit Samuel Becketts ›Warten auf Godot‹ zu vergleichen ist: Jeder kennt es, ohne es je gehört zu haben.

4’33“ thematisiert die Stille. Gespielt wird kein einziger Ton. Sehr rasch entpuppt sich Stille jedoch als eine Art ›Fake‹, da anstelle von gesetzten Tönen Geräusche wahrnehmbar werden: Klänge also, die nicht beabsichtigt oder voraussehbar sind, aber ständig da sind, vergehen oder plötzlich erklingen. Ein Geräusch oder Klang kann Gelächter oder Räuspern, das Klappern eines Absatzes oder das Rauschen von Ästen sein, es kann von Außen oder von Innen kommen – oder auch nicht. Selbst im schalltoten Raum gibt es Geräusche. Einen hohen und einen tieferen Ton vom Nervensystem und dem Herzen, wie Cage behauptet. 

In der Pariser Aufführung betrat ein befrackter Pianist mit Schwung das Podium, nahm am Flügel Platz, justierte minutiös seinen Stuhl, legte die Partitur und eine Stoppuhr auf die Auflage, sammelte sich kurz, um den Chronometer zu betätigen – nur, um den Deckel der Klaviatur zu schliessen. Danach spielte er keinen einzigen Ton. Angesichts seiner Konzentration schien es, als führte er trotzdem ein Stück auf, obwohl seine Arme und Hände regungslos blieben. Zweimal lockerte er sich, öffnete nach einigen Minuten den Deckel wieder, verbeugte sich und ging von der Bühne ab. 

War es das, mit dem berühmten Nicht-Stück 4’33“ von John Cage, uraufgeführt 1952, über die Stille? Kein einziger komponierter Ton erklang. Doch still war es während der gesamten Aufführungsdauer nicht. Je länger der Pianist nicht spielte, desto klarer nahm ich klavierfremde Klänge wahr. Plötzlich fing der vor mir sitzende rund zehnjährige Sohn eines berühmten französischen Flötisten zu zucken an, bis er sein anfängliches Kichern nicht mehr unterdrücken konnte und so stark zu lachen begann, bis er schließlich vom Stuhl fiel. Das Lachen hörte auch nicht auf, als der Pianist den Deckel wieder öffnete, Noten und Uhr an sich nahm, sich verbeugte und ging.

Das dreisätzige Stück kann von beliebigen Instrumenten in beliebigen Zusammensetzungen beliebig lang aufgeführt werden. Ja, es gibt eine Partitur, sogar mehrere Versionen. Liest man sie, lässt sich sofort erkennen: Es geht um die Berechnung von Zeit und somit auch von Raum. Der kompositorische Akt: Die drei Satzdauern wurden mit Hilfe der 64 möglichen Hexagramme des altchinesischen Orakelspiels I Ging generiert. Ihre Längen respektive Dauern sind einmal mit 30′, 143′ und 100′, in einer anderen Version etwa mit 33′, 2’40“ und 1’20“ angegeben. Für eine spätere Version schrieb Cage, dass sie auch beliebig lange dauern können. 

In den späten 40er Jahren fand Cage in einer schalltoten Kammer experimentell heraus, dass Stille kein akustisches Phänomen darstelle. Vielmehr stelle sie für ihn eine mentale Veränderung (Change of Mind) dar. Seitdem erforscht er in seiner Arbeit das Nicht-Intentionale, das Unbeabsichtigte: »In the late forties I found out by experiment (I went into the anechoic chamber at Harvard University) that silence is not acoustic. It is a change of mind, a turning around. I devoted my music to it. My work became an exploration of non intention. To carry it out faithfully I have developed a complicated composing means using I Ching chance operations, making my responsibility that of asking questions instead of making choices …«

II VOM NULLPUNKT

Der alte Teich
Ein Frosch springt hinein
Plumps!
(Haiku von Basho)

Der Komponist György Ligeti brachte es kritisch auf den Punkt: »Um die Musik Cages richtig zu verstehen, muss man mit den althergebrachten Hörgewohnheiten brechen und sich nicht nur auf das Klingende konzentrieren, sondern auch auf die dazwischenliegenden Zäsuren. Denn der Raum, die Leere ist’s, die zu diesem Zeitpunkt der Geschichte so dringend notwendig wird …«

Und Ligeti weiter: »Töne und Klänge sind also bei ihm nur Umrahmungen der Stille … ›Klang‹, so formulierte es Christian Wolff, ›kommt zu sich selber‹ … Verständlich ist Cages Absage an die kompositorischen Methoden, da alles Komponierte zugleich Produziertes und dadurch … Ware … ist. Das plan- und absichtslose, das Zufällige … bezeugt die Absage an die Produktion. Ritus des Absichtslosen. Das Erhabene wird dadurch zerstört. Die Gestik und Mimik sind ebenso wichtig wie die Klänge.«

Es geht Cage also um Absichtslosigkeit, Unbestimmtheit, Zufall.

Der Nullpunkt oder Referenzpunkt Null ist der Ausgangspunkt für gemessene oder berechnete Werte, ab dem diese bewertet oder gezählt werden. Zugleich teilt der Nullpunkt reelle Werte in die zwei Bereiche positiv und negativ.

Der absolute Nullpunkt bezeichnet den unteren Grenzwert für die Temperatur. Dieser definiert den Ursprung der absoluten Temperaturskala und wird als 0 ° Kelvin, also -273,15 ° Celsius festgelegt. Die Existenz und der extrapolierte Wert des absoluten Nullpunkts können aus dem ersten Gesetz von Gay-Lussac abgeleitet werden.

Bei 4’33“ geht es, wie gesagt, um Zahl und Zeit. Nicht um den komponierten Klang geht es, sondern um jene, die in der vorgegeben Zeit ohne das Zutun des Menschen da sind. Sie sind jedoch gestaltet und geordnet respektive ungeordnet. Es ist die Form, die sie zusammenbringt und -hält und dazu braucht es die Zahl und den Raum.

Die Summe von 273′ oder 4’33“ könnte also durchaus dem absoluten Nullpunkt von -273 ° C entsprechen, muss aber nicht. »Ich möchte immer wieder bei Null beginnen und, wenn möglich, eine Entdeckung machen«, sagte Cage. Für die ursprüngliche, bei Woodstock uraufgeführte Fassung notierte Cage leere 4/4-Takte, wobei 60 Viertel eine Minute beanspruchen, auf die Seiten. Was bleibt für die Interpreten? Damit die Zeiten eingehalten werden können, muss genau gezählt oder mit einem Chronometer die Zeiten gestoppt werden. Später verwendete Cage durchgehende proportionale Notation mit Linien und Pausenzeichen, die zuerst ausgemessen werden müssen, um die korrekten Zeiten zu bekommen. In der ersten, mehrere Jahre nach der ersten Aufführung gedruckten Ausgabe, schrieb Cage für die einzelnen Teile nur noch die Ziffern I, II und III und darunter nur ›tacet‹ (es schweigt oder pausiert), – eine Spielanweisung, die ansonsten nur für pausierende Instrumente bei Orchesterpartituren zum Einsatz kommt. Cage merkte zudem an, dass bei der Uraufführung durch den Pianisten David Tudor, dieser bei den einzelnen Satzanfängen den Klavierdeckel geschlossen und bei den Satzenden geöffnet habe.

III ÜBER DAS AUS- UND WEGL ASSEN

Alles nur Theater oder Show? Viele fragten und fragen sich, ob mit 4’33“ der Peak der Anti-Kunst einer Avantgarde er-reicht worden ist, die das Kunst kreierende Subjekt oder das Ich auf den Nullpunkt minimiert. Auf jeden Fall hätte ihn der Urvater der Avantgarde, Marcel Duchamp, zum Musiker gemacht, erzählte Cage. Einmal sagte er, dass 4’33“ sein liebstes und an anderer Stelle sein bedeutendstes Stück sei.

Er berichtet, dass er sich zur Entstehungszeit Gedanken darüber machte, warum man innerhalb der Gesellschaft künstlerisch tätig sei. Dabei sei er eigentlich nicht vom Theater, sondern von der Musik ausgegangen.

Das Stück hat in der Tat einen öffnenden, die Wahrnehmung befreienden Charakter. Es folgt der einfachen Erkenntnis, dass überall, wo gehört wird, auch Musik ist. Und für Cage gehören eben auch Geräusche, Alltagslärm, Zufallsklänge und Publikumsreaktionen zur Musik. Auf sie lenkt er die Aufmerksamkeit, indem er sich nichts als Schweigen oder eben Pausen der Interpreten wünscht und das, was währenddessen passiert, zum eigentlich Komponierten erklärt. In seiner eingangs zitierten ›Lecture on Nothing‹, die er zwei Jahre vor der Uraufführung von 4’33“ gehalten hatte, betonte Cage: »Struktur ohne Leben ist tot. Aber Leben ohne Struktur ist nicht wahrzunehmen. Pures Leben drückt sich in und durch Struktur aus.«

Cage hat mit diesem Stück etwas geschaffen, was es in der abendländischen Kunstmusik bis dahin noch nicht gab – komponierte Stille, das Schweigen als künstlerischer Akt, Musik als Nichtmusik. 4’33“ steht als Botschaft für das Auslassen als künstlerischer Akt.

Cage träumt von herrschaftsfreien Klangbeziehungen, erwürfelt die Töne mit Hilfe von Zufallsoperationen nach dem chinesischen Orakelbuch I Ging, er reflektiert in seinen Werken den musikalischen Zeitbegriff, ist Postdadaist, Anarchist, Zen-Buddhist und Avantgardist in Einem. Er vereint Ost und West in diesem Stück. Kein Zufall, dass es Cage war, der dieses einfachste aller denkbaren Musikstücke geschrieben hat, auf das sein berühmtes Zitat zutrifft: »Sie müssen es nicht für Musik halten, wenn dieser Ausdruck sie schockiert.«

Literaturliste
Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main, 1982
John Cage, I–VI, The Charles Eliot Norton Lectures, Hanover, 1990 John Cage, Silence, Neuwied und Berlin, 1969
Kyle Gann, No Such Thing as Silence, Yale, 2010
Richard Kostelanetz, John Cage, 1973, Köln
Richard Kostelanetz, John Cage im Gespräch, 1989, Köln
György Ligeti, Gesammelte Schriften, Basel und Mainz, 2007 Thomas M. Maier, Kopf und Zahl, in: Neue Zeitschrift für Musik, Mainz, 2, 2012, S. 28 ff.
Joan Retallack, John Cage in Conversation with Joan Retallack, Hanover, New England, 1996
Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.